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Freilauf des Gehirns

Am diesjährigen Filmfestival von Locarno wurde Bruno Molls Film «Brain Concert» uraufgeführt, Ende Oktober kommt er in die Schweizer Kinos. Über den Versuch des Schweizer Filmemachers, dem Wesen der Musik im Gespräch mit Neurowissenschaftlern auf die Spur zu kommen.

VON CHRISTINE TRESCH
«Existiert noch etwas ausserhalb unseres Hirns?», fragt die Obertonsängerin Sainkho Namtchylak.

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in Soldat klimpert auf einem im Wald stehenden Klavier herum. Dieses Foto taucht wie ein Leitmotiv auf in Bruno Molls neustem Dokumentarfilm. Kriegerische Auseinandersetzungen sind aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen nicht wegzudenken. Wie die Musik zum Menschen gekommen ist und warum Kunstwerke beseelen können, darüber rätselt die Wissenschaft.

In der Geistesgeschichte zählte man die schöngeistigen Dinge bis zur Renaissance zu den göttlichen Offenbarungen. Mit der modernen Wissenschaft hat die Rede von den Engelszungen ausgedient und die Suche nach den biochemischen Ursachen begonnen. Und heute, im Jahrzehnt des Gehirns? Der deutsche Neurophysiologe Henning Scheich macht die Verhältnisse deutlich: Der Begriff «Seele» sei eine Wertekategorie, ein Zusammenzug bestimmter Zustände und passe nicht in seine Suche nach Prozessen im Hirn hinein. Spricht’s, im Walde stehend, und reitet auf seinem Pferd gemächlich davon.

Die Forscherseite

Das heisst, das Pferd vom Schwanz aufzäumen. Aber der Film von Bruno Moll endet wie er begonnen hat. «Brain Concert» ist ein vielfältiger Reigen durch die Denkwelten von europäischen und US-amerikanischen HirnforscherInnen, die eines Tages eine Antwort zu finden hoffen, auf die Frage, warum und wie wir Menschen wahrnehmen und empfinden können – und eine Reise durch die Klangwelten klassischer und improvisierter Musik.

Moll lässt die ForscherInnen erzählen, was sie im Zusammenhang mit ihrer Forschung an der Musik interessiert, lässt sie Labortests mit MusikerInnen erklären und in der Natur die Evolutionsgeschichte mit Treibholz nachzeichnen. Da, wo sie uns Grundlagenwissen vermitteln, etwa wenn der Zürcher Neuroanatom Hans-Peter Lipp ein Hirn auseinanderschneidet und zerbröckelt, um auf die Nervenfasern zu stossen, die die linke und die rechte Hirnhälfte verbinden, tun sie es entschieden für ein Laienpublikum. Das hat etwas Rührendes.

Der Kontrapunkt

Der Kontrapunkt zu diesen kultivierten wissenschaftlichen Selbstdarstellungen bildet die Musik. Zum Beispiel Motive aus Modest Mussorgskys «Bilder einer Ausstellung», gespielt von Adrienne Krausz, die Obertöne der russischen Sängerin Sainkho Namtchylak oder die Klänge des Bündner Freejazz-Saxophonisten Werner Lüdi. Die Kamera (Hans-Ueli Schenkel) ruht auf den MusikerInnen, so dass man sich ganz auf die wie selbstverständliche Daseinsform Musik konzentrieren kann.
Immer zieht Bruno Moll die Tonebene unter die nächste Gesprächssequenz. Das macht einen Teil der Suggestivität von «Brain Concert» aus. Dazu kommen einige fast sentimental wirkende Bildfolgen: fliehende Wolken, rauschendes Wasser, karge Landschaften. Bei seiner Reise durch die musikalisch-visuelle Welt des Geistes, soll «das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelheiten» sein, sagt Bruno Moll.

Die Differenz

Der Theatermacher Peter Brook, der sich in seinen jüngeren Stücken mit neurologischen Phänomenen auseinandersetzt, fragte einmal: «Was ist wichtiger, damit man den nächsten Augenblick im Leben mit geschärftem Bewusstsein entgegentreten kann? Die innere Stille, die daher rührt, dass man vor einem Geheimnis steht? Oder das Aufdämmern einer nächsten Frage, weil die erste Frage präziser formuliert wird? Ich glaube nicht, dass das so ganz das gleiche ist.»

Um die Differenz, die diesen beiden Fragen zugrunde liegt, geht es auch Bruno Moll in «Brain Concert». Und wer die Arbeit von Bruno Moll kennt – seinen wunderbaren Film etwa über ein Seefahreraltersheim in Italien, «Gente di Mare» (1992), oder «Mekong», (1995), der Otto F. Walters letztes Buch «Die verlorene Geschichte» als Grundlage hat – weiss, dass er es immer eher mit den Stillen oder Stillgewordenen gehalten hat.

Spielt er jetzt die sprachlose, aber mit Emotionen wie Glück, Erfüllung oder Erregung verbundene Musik gegen die eloquenten Neurologen aus, die dafür eintreten, dass sich dereinst alles, was uns bestimmt, auf Synapsen, Nervenfasern und neuronale Schaltungen zurückführen, also auch in Sprache fassen lässt?

Moll hält sich als Autor zurück, er will Standpunkte auflösen, ineinanderfliessen lassen. Sein Staunen gilt auch den Wegen, welche die Forschung geht. Aber so, wie das Hirn nicht aus dem Schädel springen kann, weil «jede einzelne Form der Beobachtung und Theorie, die ja durch das Hirn strukturiert ist, auch die Beschränkung des Hirns in sich trägt» (Peter Brook), so kann der Filmemacher nicht hinter die filmischen Mittel zurückgehen. Er komponiert und rhythmisiert und bindet den Freilauf des Gehirns in feste Strukturen ein. Darum heisst sein Film ja auch «Brain Concert».

Bruno Molls Film «Brain Concert» läuft Ende Oktober in den Deutschschweizer Kinos an.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98