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«Gehen» mit dem Rückenmark?

Einer erwachsenen Katze kann nach einer Rückenmarksverletzung wieder ein Bewegungsmuster antrainiert werden, das in vielen Beziehungen dem eines gesunden Tieres entspricht. Ähnliche Fortbewegungsmuster sind unter bestimmten Voraussetzungen auch bei querschnittgelähmten Patienten festgestellt worden. Muskelaktivierung geschieht also nicht nur im Gehirn, sondern auch über das Rückenmark.

VON VOLKER DIETZ
Das Rückenmark stellt nicht nur ein Leitungsorgan für Kommandosignale vom Gehirn zu den Extremitätenmuskeln dar. Vielmehr ist aus Untersuchungen, zuerst an der Katze, später auch am Menschen, bekannt, dass das Rückenmark einen neuronalen Eigenapparat besitzt, der auf äussere Reize hin eine komplexe Muskelaktivierung auslöst. So kann zum Beispiel bei neugeborenen Säuglingen die Berührung der Fusssohlen Schreitbewegungen der Beine auslösen.

Im Vergleich zur rückenmarkverletzten Katze zeigen paraplegische Patienten üblicherweise keine lokomotionsähnliche Aktivität. Dies wurde auf eine grössere Dominanz der motorischen Zentren des Gehirns über das Rückenmark zurückgeführt. Trotzdem konnten auch beim paraplegischen Menschen unter bestimmten Bedingungen gewisse Formen einer vom Rückenmark koordinierten, rhythmischen Aktivität hervorgerufen werden. In den letzten Jahren wurden bei Patienten mit inkompletter Rückenmarkläsion mehrfach unwillkürliche Schreitbewegungen beschrieben. Ausserdem konnte gezeigt werden, dass bei komplett paraplegischen Patienten das Rückenmark unterhalb der Verletzungsstelle Informationen aus der Peripherie, wie die von Kraftrezeptoren, adäquat verarbeiten und in eine funktionell sinnvolle Muskelaktivierung umsetzen kann.

Vor einigen Jahren wurde begonnen, die von motorischen Hirnzentren abgekoppelten, für die Stand- und Gangregulation wesentlichen Rückenmarkzentren durch periphere Reize zu aktivieren, um eine Bewegungsverbesserung zu erreichen. Gegenüber der direkten elektrischen Stimulation der gelähmten Muskeln hat dieser Behandlungsansatz den Vorteil einer natürlichen Form der Muskelaktivierung.

Seit über zehn Jahren ist aus tierexperimentellen Untersuchungen bekannt, dass beim Säugetier eine Fortbewegung (Schreiten) auf Rückenmarkebene möglich ist: Nach einer kompletten Rückenmarkläsion kann eine erwachsene Katze oder Ratte so trainiert werden, dass sie wieder ein Bewegungsmuster entwickelt, das in vielen Aspekten dem des intakten Tieres gleicht.

Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch bei Patienten mit inkompletter Querschnittslähmung Fortbewegungsmuster auf Rückenmarkebene ausgelöst und trainiert werden können. Bei Patienten mit Querschnittlähmung, die auf ein Laufband gestellt werden und deren Körper durch Gurte unterstützt wird, können durch das sich bewegende Laufband koordinierte Schreitbewegungen ausgelöst werden. Das Gangmuster kann trainiert werden, und die Patienten profitieren von einem derartigen Training. Diese und ähnliche Untersuchungen haben gezeigt, dass sich durch das Laufbandtraining bei Patienten mit Rük-kenmarkverletzungen ein «normaleres» Fortbewegungsmuster entwickelt.

Wo liegen die Bewegungsschaltkreise?

Die Frage nach der Lokalisation von Lokomotionszentren im Rückenmark ist wesentlich, um ein erfolgreiches Fortbewegungstraining bei para- und tetraplegischen Patienten durchzuführen. Auskunft geben können Patienten mit unterschiedlicher Lokalisation der Verletzung (Läsionshöhe).

So wurde bei motorisch komplett paraplegischen Patienten mit unterschiedlicher Läsionshöhe (das heisst von Lenden-, Brust- und Halsmarkbereich) das Schreitmuster unter Körperentlastung und einem von extern assistierten Laufband ausgelöst. Es zeigte sich, dass das Gangmuster bezüglich der Stärke und Modulation der neuronalen Beinmuskelaktivierung um so «normaler» ist, je höher die Rückenmarkläsion lokalisiert ist.

Daraus ergibt sich, dass grosse Teile des Rückenmarks am der Lokomotion zugrunde liegenden neuronalen Netzwerk beteiligt sind. Die für den Vierfüsslergang, zum Beispiel der Katze, verständliche Ausdehnung persistiert offenbar auch beim Zweibeingang des Menschen. Das koordinierte Mitschwingen der Arme beim Gehen des Menschen könnte auch Ausdruck dieser ausgedehnten Rückenmarkaktivität sein.

Diese Beobachtungen haben insofern Bedeutung, als Patienten mit hoher Rückenmarkläsion von einer künftig möglich erscheinenden Regenerationstherapie wahrscheinlich mehr profitieren würden als Patienten mit einer tiefen Läsion.
Die Ratte als Modell

Ein wesentliches Ziel derzeitiger Forschung ist es – wie bei der Ratte bereits gelungen –, auch beim para- und tetraplegischen Patienten eine funktionell wirksame Teilregeneration verletzter Rückenmarkfasern zu erreichen. Als Grundlage hierfür ist zu klären, inwieweit das Modell des Rattenrückenmarks auf den Menschen übertragbar ist. Auf Fragen, wie die der Grenzen möglicher Regenerationsfähigkeit und die Erfordernis funktionsfähiger Rükkenmarkfasern für das Gehen, sind Antworten zu finden.

Bei Patienten mit frischer Rückenmarkläsion wurden im Hinblick darauf über Jahre systematisch elektrophysiologische Verlaufsuntersuchungen durchgeführt. Sie brachten eine objektive Erfassung quantitativer Aussagen über die verbliebene Impulsleitfähigkeit des verletzten Rückenmarks bei para- und tetraplegischen Patienten und einen Vergleich mit dem klinischen Verlauf. Dadurch wurden schon kurz nach dem Trauma prognostische Aussagen über die zu erreichen-
de Bewegungsfähigkeit möglich. Ausserdem konnten früh gezielte Behandlungsmassnahmen eingeleitet werden.
Zudem wurden in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem Institut für Hirnforschung der Universität Zürich entsprechende Verhaltens- und elektrophysiologische sowie morphologische Untersuchungen bei der Ratte mit verletztem Rückenmark durchgeführt.

In allen Untersuchungen zeigte sich bei Patienten und Ratte eine enge Korrelation zwischen dem Ausmass der Störung in der Impulsleitfähigkeit der Geh- beziehungsweise Lauffähigkeit und dem Ausmass der Rückenmarkschädigung. Bei der Ratte konnte also, wie beim Patienten mit Rückenmarkverletzung, durch eine kombinierte Verhaltens- und elektrophysiologische Untersuchung die Entwicklung der Bewegungsstörung vorausgesagt werden. Dementsprechend ist auch zu erwarten, dass elektrophysiologische Untersuchungen bei einer therapeutischen Intervention zur Erzielung einer Regeneration von Nervenfasern im Rückenmark eine empfindliche Methode darstellen, um diese Verbesserung objektiv zu erfassen.

Regenerationsmöglichkeiten

Eine ganz wesentliche Verbesserung des Lokomotionstrainings könnte durch eine teilweise Regeneration von Rückenmarkfasern erreicht werden, wie sie in der Ratte durch den Einsatz von spezifischen Antikörpern möglich ist (siehe den nachfolgenden Text).

Ein anderer Weg, Regeneration verletzter Rückenmarkbahnen zu erreichen, stellt die Überbrückung der Verletzungsstelle von der weissen zur grauen Substanz durch periphere Nerven dar. Sollte bei Querschnittsgelähmten auch nur ein Teil der Rückenmarkfasern regenerieren und Anschluss an seine Zielzellen finden, so wäre mit einem wesentlich grösseren Erfolg des Trainings von motorischen Rückenmarkzentren zu rechnen.

Ein neuer Versuch, die Beweglichkeit von Patienten mit Querschnittslähmung zu erhöhen, wird sich also darauf beziehen, das Rückenmark unterhalb der Verletzungsstelle in die koordinierte Muskelaktivierung mit einzubeziehen. Bei inkomplett paraplegischen Patienten können koordinierte Aktivitätsmuster und Beinbewegungen ausgelöst und trainiert werden. Durch eine Verbesserung des Trainings von motorischen Rückenmarkzentren scheint künftig eine Teilregeneration von Rückenmarkfasern möglich.


Dr. Volker Dietz ist ausserordentlicher Professor für Paraplegiologie an der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist, Zürich.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98