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Was momentan im Kopf ist

Der subjektiv erlebte Strom des Bewusstseins entspricht hirnphysiologisch einer unendlichen Kette von Hirnzuständen, sogenannten Mikrozuständen. Diese «Atome des Denkens» kann man anhand ihrer hirnelektrischen Felder messen. Bestimmte Bewusstseinsinhalte entsprechen dabei bestimmten Feldkonfigurationen. Moderne bildgebende Verfahren ermöglichen heute die dreidimensionale Darstellung der momentanen elektrischen Hirnaktivität als Hirnschnittbilder.

VON DIETRICH LEHMANN, THOMAS KÖNIG UND ROBERTO D. PASQUAL-MARQUI
Was dachten Sie gerade, ehe Sie diesen Text zu lesen begannen? Was auch immer, Sie müssen etwas gedacht haben, denn entgegen der landläufigen Meinung sind Gedanken und Emotionen nur schwer zu vermeiden. «Nichts im Kopf» muss geübt werden, klassische Meditationsübungen nehmen bekanntlich viel Zeit in Anspruch. Aber auch die bewusste Beobachtung eigener Gedanken braucht Übung, gelingt dann aber sehr gut. So hat eine lange Tradition der Introspektion fruchtbare Konzepte über das Funktionieren des menschlichen Hirns begründet.

Das gesunde Hirn verarbeitet und klassifiziert ununterbrochen Information – im Zustand der Wachheit und des Schlafs: Wichtige Information weckt, zum Beispiel das Weinen eines Kindes, unwichtige wie Strassenlärm lässt einen weiterschlafen.

Andererseits hängt die Erinnerungsfähigkeit vom Hirnzustand beim Erleben und beim Erinnerungsversuch ab: Während des Wachseins Erlebtes (Gedanken und Emotionen) wird wach gut erinnert, ausser man ist in Aufregung, wie bei einem Examen. Im Schlaf Erlebtes mag im Schlaf erinnerbar sein (es gibt experimentelle Hinweise dafür), aber es lässt sich wach nicht einfach hervorholen, Träume zum Beispiel.

Daraus lässt sich schliessen, dass in weniger komplex organisierten Hirnzuständen Gespeichertes schlecht in höher organisierten Zuständen abrufbar ist; während des Wachseins Gelerntes umgekehrt aber im Schlaf zugänglich wird, «Tagesreste» etwa im Traum. Erinnerung ist also im Bezug auf Hirnzustände «asymmetrisch».

Erinnerung und Denken sind zustandsabhängig

Die auf der Kopfoberfläche messbare elektrische Aktivität des Gehirns, das hirnelektrische Feld (die «Hirnpotentiale», das «Elektroenzephalogramm» [EEG]), reflektiert sehr empfindlich globale Zustände des Hirns. Die dominante Pulsationsfrequenz der Felder sticht als wichtige Charakteristik hervor.

Als Grobregel gilt, dass langsamere Frequenzen einfacher organisierten, gesunden Hirnzuständen entsprechen (zum Beispiel Wachheit beim Kleinkind, Schlaf beim Erwachsenen) und schnellere Frequenzen höher organisierten Zuständen (zum Beispiel Wachheit beim Erwachsenen). Die Frequenz klassifiziert also Hirnmakrozustände.

Auch die Regeln, nach denen Gedanken kreiert und verbunden werden, sind je nach globalem Makrozustand und damit nach Hirnfeld-Charakteristika verschieden. Bei gesunden Erwachsenen variieren die Regeln von eingeengter Realitätsfokusierung in Erregung über ausgewogene Realitätskontrolle der Gedanken bei «normaler» Wachheit zu gelockerten, realitätsfernen Re-Arrangements wiedererinnerter Erlebnisse im Traum – darüber hinaus bieten Rausch- und pathologische Zustände eine weitere, riesige Palette. Allgemein gilt, dass Makrozustände unter einer Frequenz von 8 Hz beim Erwachsenen nicht mit normalem Wachbewusstsein vereinbar sind.

Die Atome des Denkens

Die Frequenz der Hirnfelder definiert Makrozustände im Bereich von Sekunden, das ist zu langsam für die sich rasch ändernden bewussten Gedanken und Emotionen, wie sie zum Beispiel beim Lesen dieses Artikels auftreten. Andererseits kann man das Hirnfeld zu einem momentanen Zeitpunkt als Kartenlandschaft der Potentialverteilung darstellen. Damit ist Zeitauflösung im Millisekundenbereich möglich, was für eine Gedankenuntersuchung mehr als nur ausreicht.

Verschiedene Potentiallandschaften müssen durch Aktivität verschiedener Hirn-Nervenzell-Populationen verursacht worden sein. Gleichgültig, wo sie sind und ob sie verteilt oder in einem Punkt konzentriert sind, drängt sich damit auf, dass verschiedene Potentiallandschaften wohl verschiedenen Hirnfunktionen entsprechen, also verschiedenen Arten oder Schritten der Informationsverarbeitung.

Wir haben herausgefunden, dass sich die Hirnfeldlandschaften nicht kontinuierlich ändern, sondern kurzzeitig quasi-stationär sind und dann rasch in die nächste Landschaft übergehen. Man kann also den Strom der Landschaften in kurze Zeitpakete segmentieren, in «Mikrozustände» zwischen etwa 80 bis 250 Millisekunden: Der kontinuierlich erlebte Strom des Bewusstsein besteht offenbar aus unterscheidbaren kurzdauernden «Atomen».

Wenn verschiedene Mikrozustand-Landschaften verschiedene Modi der Informationsverarbeitung sind, bleibt herauszufinden, was die funktionelle Bedeutung der verschiedenen Mikrozustände ist: das Diktionär muss erstellt werden.

Zwei Atome im Strom des Bewusstseins

Ein spontaner Einfall, ein Gedanke, aus dem riesigen Vorrat an Material im sich selbst organisierenden Hirn kreiert, kann sehr verschiedener Art sein. Wenn man Versuchspersonen in zufälligen Zeitabständen auffordert, «das zu berichten, was ihnen gerade durch den Kopf ging», lassen sich zwanglos verschiedene Klassen der Berichte unterscheiden.

Häufig sind bildliche Vorstellungen und abstrakt Gedachtes. Der letzte Mikrozustand, der etwa 0,120 Sekunden vor dem jeweiligen Bericht begann, zeigte verschiedene Hirnareale für die beiden Denkkategorien an. Eine neuentwickelte Methode der Umsetzung der hirnelektrischen Aktivität in momentane Hirn-Tomographie-Bilder (LORETA: Low Resolution Electromagnetic Tomography) (Abb.1) lokalisiert diesen Befund: In einer Versuchsserie mit 13 Personen hatten Mikrozustände, die mit visuellen Vorstellungen einhergingen, signifikant stärkere Aktivität weiter hinten und rechts verglichen mit Mikrozuständen, die mit abstrakten Gedanken einhergingen; bei diesen «abstrakten» Denk-Atomen war signifikant stärkere Aktivität vorne links.


Abbildung 1: LORETA-Tomographie der elektrischen Hirnaktivität. Schnittbilder des Hirns einer gesunden Versuchsperson, (v.l.n.r.) von oben (Nase oben), von der linken Seite und von hinten gesehen. Die schwarzen Dreiecke markieren die Schnittebenen. Blau sind Cortexgebiete, die im Mittel mehr elektrische Aktivität während der Mikrozustände mit bildlichen Vorstellungen zeigten; rot sind die Gebiete, welche aktiver während der Mikrozustände mit abstrakten Gedanken waren. Die Mikrozustände dauerten im Durchschnitt 0,117 Sekunden.

Mikrozustandsklasse bei schizophrenen Störungen

Die Diagnose Schizophrenie basiert auf den geäusserten Gedanken und Emotionen und dem erkennbaren Verhalten der Patienten. Abnorme Mikrozustände sollten also den abnormen Äusserungen entsprechen.

Zusammen mit Frau Prof. Koukkou von der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern analysierten wir hirnelektrische Daten von noch unbehandelten, erstmals akut erkrankten Patienten und verglichen sie mit Gesunden. Die über zehntausend momentanen Potentialkarten der Patienten und Gesunden wurden mittels Cluster-Analyse in vier Mikrozustandsklassen klassifiziert.

Die Potentiallandschaften einer dieser vier Klassen waren signifikant verschieden für Patienten und Gesunde, die drei anderen waren gleich. Die Mikrozustände dieser abnormen Klasse waren desto kürzer, je schwerer die paranoide Symptomatik ausgeprägt war. Die abnorme Mikrozustandsklasse kam im Durchschnitt etwa dreimal pro Sekunde vor und beanspruchte etwa 20% der Gesamtzeit; ihre Landschaft ähnelte der eines Mikrozustands, wie er in Experimenten mit Gesunden bei fehlender Aufmerksamkeit beobachtet wurde.

Diese Befunde führen zur Interpretation, dass im Mikrozustandsrepertoire der Schizophrenen eine Klasse rekurrierender abnormer Mikrozustände vorkommt, die zustandsinadäquate Aufmerksamkeitsfunktionen zu reflektieren scheint, ein oft diskutiertes Problem der Schizophrenie. Da alle Informationsverarbeitung zustandsabhängig ist, würde dies die fluktuierend immer wieder auftretenden abnormen Gedanken erklären. Andererseits war zu anderen Zeiten die Hirnfunktion offensichtlich von der der Gesunden nicht unterscheidbar, was ja durchaus dem klinischen Bild entspricht.



Literatur

  1. Lehmann, D., Strik, W.K., Henggeler, B., Koenig, T. und Koukkou, M.: Brain electric microstates and momentary conscious mind states as building blocks of spontaneous thinking: I. Visual imagery and abstract thoughts. Int. J. Psychophysiol. 29: 1–11 (1998).
  2. Pasqual-Marqui, R.D., Michel, C.M. und Lehmann, D.: Low resolution electromagnetic tomography: a new method for localizing electrical activity in the brain. Int. J. Psychophysiol. 18: 49–65 (1994)


Dr. Dietrich Lehmann ist Honorarprofessor für klinische Neurophysiologie am KEY-Institute for Brain-Mind Research der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Dr. Thomas König und Ph. D. Roberto D. Pasqual-Marqui sind wissenschaftliche Mitarbeiter an diesem Institut.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98