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Von Nervenfaser zu Nervenfaser

Verletzungen von Rückenmark oder Gehirn erzeugen lebenslängliche Funktionsausfälle. Warum die betroffenen Nervenfasern nicht mehr nachwachsen und unter welchen Umständen sie sich wieder regenerieren könnten, danach wird am Institut für Hirnforschung mit Hilfe von rückenmarkverletzten Ratten geforscht.

VON MARTIN E. SCHWAB
Eine Verletzung des Rückenmarks durchtrennt oder zerquetscht die Tausenden von Nervenfasern, die Bewegungsimpulse vom Gehirn an die Nervenzentren des Rückenmarks leiten, sowie die Nervenfaserbahnen, die Empfindungen aus allen Teilen des Körpers über das Rückenmark ins Gehirn weitergeben. Lähmungen und Ausfälle der Körperwahrnehmung unterhalb der Verletzungsstelle sind die Folge (Paraplegie, bei Einbezug der Arme auch Tetraplegie).

Die Schädigungen, die eine gewisse Zeit nach der Verletzung erscheinen, bestehen lebenslang. Dies beruht anatomisch auf der Tatsache, dass der Nervenstumpf, der zum Beispiel vom Nervenzellkörper im Gehirn zur Verletzungsstelle im Rückenmark reicht, zwar überlebt und oft sogar einen Versuch zur Reparatur (regenerative Sprossung) macht, dass es ihm aber nicht gelingt, mehr als etwa 1 mm über die Verletzungsstelle hinaus zu wachsen. Das vom Zellkörper abgetrennte Nervenfaserende degeneriert unwiderruflich.

Das fehlende Vermögen, verletzte Nervenfasern über lange Strecken nachwachsen zu lassen, ist als Eigenheit von Gehirn und Rückenmark seit mehr als hundert Jahren bekannt. Im letzten Jahrzehnt hat eine intensive Suche nach den zugrunde liegenden Faktoren und zellbiologischen und biochemischen Mechanismen eingesetzt. So ist es durch die Zugabe von sogenannten neurotrophen Faktoren (Eiweisse, die während der Frühentwicklung des Nervensystems das Wachstum von Nervenfasern fördern) ins Rückenmark erwachsener Ratten gelungen, die regenerative Sprossung zu verstärken. In anderen Experimenten wurde, zum Teil erfolgreich, versucht, die Trümmerzone und die sich bildenden Kavernen am Verletzungsort zu überbrücken. In beiden Fällen stoppt allerdings das regenerative Faserwachstum oft nach wenigen Millimetern.

Wachstumsbremse für Nervenfasern

Vor etwa zehn Jahren führte die Beobachtung von wachsenden Nervenfasern in Zellkultur zu einem unerwarteten Befund: Der Kontakt einer wachsenden Nervenfaserspitze mit den in Gehirn und Rückenmark normalerweise faserisolierenden Hüllzellen (Oligodendrozyten, Myelin) führte zum brüsken Wachstumsstopp.

In biochemischen, zellbiologischen und molekularbiologischen Untersuchungen wurde diese Wachstumsbremse schrittweise analysiert. Ihr Hauptanteil, ein neuartiges Membraneiweiss mit sehr grosser Ähnlichkeit in Ratte, Rind und Mensch, konnte kürzlich molekularbiologisch vollständig aufgeklärt werden. Im Verlauf dieser Studien wurden Antikörper erzeugt, welche die Hemmwirkung der Nervenfaserhüllen auf wachsende und regenerierende Nervenfasern weitgehend aufheben. Einer dieser Antikörper (der neutralisierende Antikörper IN-1) ermöglichte uns, zuerst in Zellkultur und anschliessend im Tierexperiment (Ratte, Maus) die Rolle dieser Hemmstoffe für das fehlende Regenerationsvermögen verletzter Nervenfasern zu überprüfen.

Längsschnitt durch das Rückenmark einer Ratte; Verletzung in dorsaler Hälfte (rechts); regenerierende Kortikospinal-Trakt-Fasern mit Verzweigungen.
C. Brösamle und M. E. Schwab

Verletzte Nervenfasern regenerieren

Die oben beschriebenen Antikörper gegen die Nervenwachstumshemmstoffe in den Nervenfaserhüllen (Antikörper IN-1) wurden entweder zum Zeitpunkt der Verletzung oder zwei Wochen danach ins Zentralnervensystem rückenmarksverletzter Ratten gegeben. Drei bis vier Wochen später wurde die Faserbahn, die von der Grosshirnrinde ins Rückmark zieht und für die Auslösung und Steuerung von Bewegungen verantwortlich ist, neuroanatomisch untersucht.

Zusätzlich zur schon bekannten regenerativen Sprossung an der Verletzungsstelle konnten nun zum ersten Mal regenerierende Nervenfasern beobachtet werden, die auf verbleibenden Gewebebrücken die Verletzungsstelle überquerten und über lange Distanzen in den unteren Teil des Rückenmarks einwuchsen. Obwohl von Tier zu Tier variabel, konnten Regenerationen vom mittleren Brustbereich bis in den Lenden- und Kreuzbeinbereich beobachtet werden. Faserregenerationen ähnlicher Art unter dem Einfluss von hemmstoffneutralisierenden Antikörpern konnten auch nach Gehirnverletzungen gezeigt werden.

Von entscheidender Bedeutung war nun die Frage, ob durch diese regenerierten Fasern verlorene Funktionen wiederhergestellt werden können. In ersten Experimenten, insbesondere zum Laufverhalten rückenmarksverletzter Ratten, war dies tatsächlich der Fall: Gebrauch der Hinterbeine, Schrittlänge und einige für korrektes Laufen wichtige Reflexe kehrten in antikörperbehandelten Ratten in erstaunlichem Mass zurück.

Diese wichtigen Experimente werden zurzeit in ausführlichen Verhaltens- und physiologischen Studien in Zusammenarbeit mit dem Paraplegikerzentrum an der Klinik Balgrist wesentlich ausgebaut. So werden Ratten auf Laufbändern trainiert und das Laufen über unregelmässige Gitter, Klettern am Seil sowie feine Pfotenbewegungen beim Ergreifen von Futterkügelchen im Detail studiert. Von grundlegender Wichtigkeit, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche zukünftige therapeutische Anwendung dieser Behandlung, ist es herauszufinden, ob neben den beobachteten funktionellen Verbesserungen keine Fehlfunktionen auftreten.

Neuverschaltung intakter Schaltkreise

Teilausfälle einzelner Fasersysteme, wie sie bei inkompletten Verletzungen vorkommen, sowie Teilregenerationen – aufgrund der Grösse der Verletzung, der Narbenbildung usw. regenerieren im Tiermodell nur etwa 20% der verletzten Fasern – verlangen vom übriggebliebenen Nervensystem eine adaptive Antwort, die im erwachsenen Rückenmark oder Gehirn scheinbar nur sehr eingeschränkt möglich ist.

Die Ausschaltung des oben beschriebenen Wachstumshemmstoffs im Tiermodell führte zu Wachstum und Umverschaltungen intakter Fasersysteme im Rückenmark und Hirnstamm erwachsener Ratten, wie sie sonst nur in neugeborenen Tieren vorkommen. Diesen anatomischen Vorgängen entsprach in verschiedenen Verhaltenstests eine fast vollständige Erholung der Vorderpfoten-(«Hand»-)Funktion der Tiere.

Diese strukturelle Plastizität könnte auch für funktionelle Verbesserungen nach grossen Hirnverletzungen wichtig sein, analog zur Situation im neugeborenen Menschen, wo selbst Entfernungen einer ganzen Grosshirnhälfte funktionell weitgehend kompensiert werden können. Parallel zu Studien an rückenmarksverletzten Ratten laufen deshalb zurzeit Studien an Rattenmodellen für Gehirnverletzungen und Schlaganfälle.

Ausblick

Die Ähnlichkeit grundlegender biologischer Mechanismen zwischen Ratte und Mensch auch in bezug auf das Nervenfaserwachstum und die oben beschriebenen Wachstumshemmstoffe geben Anlass zur Hoffnung, dass diese Befunde in nicht allzu ferner Zukunft zur Entwicklung von neuen Therapien für paraplegische, tetraplegische und hirnverletzte Menschen führen können.

Die gentechnologische Entwicklung und Optimierung eines Antikörpers gegen die menschlichen Wachstumshemmstoffe ist zurzeit schon weit fortgeschritten. Die weitere Prüfung der Wirksamkeit, toxikologische Studien und auch die detaillierte Ausarbeitung der Anwendungsart (Studien, die nur in Zusammenarbeit mit einer auf diesem Gebiet erfahrenen Firma durchgeführt werden können) werden noch einige Zeit beanspruchen. Der Einbezug von zellbiologischen und molekularbiologisch-gentechnologischen Verfahren einerseits und die enge Zusammenarbeit mit den entsprechenden Kliniken anderseits, insbesondere dem Schweizerischen Paraplegikerzentrum an der Uni-Klinik Balgrist, sind wichtige Voraussetzungen zum Gelingen dieses Projekts.


Dr. Martin E. Schwab ist ordentlicher Professor für Hirnforschung, Abteilung Neuromorphologie, am Institut für Hirnforschung, Universität Zürich und ETH Zürich.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98