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Wie viele Schizophrenien gibt es?

Schizophrenien zeigen die unterschiedlichsten Erscheinungsbilder und Verlaufsformen. Und auch die funktionellen und strukturellen Hirnveränderungen bei schizophrenen Patienten sind äusserst vielfältig. Neurobiologische Schizophreniemodelle versuchen, diesem Syndrom und seinen mannigfaltigen Ursachen auf die Spur zu kommen.

VON FRANZ X. VOLLENWEIDER UND DANIEL HELL
Im Gegensatz zu klar umrissenen Funktionsausfällen, die zum Beispiel nach einer Verletzung des Sprachzentrums im Gehirn auftreten, liegen bei Schizophreniekranken eigenartige und fremd anmutende Veränderungen oder «Verzerrungen» mentaler Funktionen vor. Diese Fremd- und Andersartigkeit hat mit einer veränderten Selbst- und Umweltwahrnehmung der Kranken zu tun.

In der Bevölkerung leidet etwa eine(r) von hundert mindestens einmal im Leben an einer solchen psychotischen Störung. Wenn auch die Ursachen der Schizophrenien nach wie vor nicht geklärt sind, so geht man heute davon aus, dass Schizophrenien einerseits mit Störungen von Gehirnfunktionen verbunden sind, andererseits auch psychosoziale Faktoren (wie Entwicklungsprobleme, belastende Lebensereignisse, Stress) zu deren Auslösung beitragen und den Verlauf der Erkrankung mitbestimmen.

Eine Schwierigkeit in der Ursachenforschung schizophrener Störungen liegt in der Tatsache, dass Schizophrenien die unterschiedlichsten psychopathologischen Erscheinungsbilder und klinischen Verlaufsformen zeigen, weshalb schon Eugen Bleuler von der «Gruppe der Schizophrenien» gesprochen hat (1911). Auch die Vielfalt funktioneller und struktureller Hirnveränderungen bei Schizophrenen weist darauf hin, dass Schizophrenie eher als ein Syndrom betrachtet werden muss, das durch unterschiedliche Prozesse verursacht wird.

Der Schizophrenieforschung kommt die Aufgabe zu, neben den Ursachen auch pathophysiologische Vorgänge bei Schizophreniekranken aufzuklären. Letzteres mit dem Ziel einer verbesserten Therapie und erleichterten Rehabilitation und wenn möglich zur Verhinderung von Chronifizierung und Folgeschäden. Neue funktionelle bildgebende Verfahren (PET, SPECT, fMRI) sowie psychophysiologische und molekularbiologische Methoden erlauben erst seit kurzem Einblicke in die höheren Hirnfunktionen, welche in Zukunft für die Schizophrenieforschung von Bedeutung sein dürften.

«Filterdefizit» als Ursache psychotischer Symptome?

Denkstörungen, die der frühere Zürcher Burghölzli-Direktor Eugen Bleuler als «Lockerung
der assoziativen Verbindungen» charakterisierte, wurden schon früh als Grundelement schizophrener Erkrankungen erkannt und als biologisch verursacht vermutet. Dabei ging Bleuler davon aus, dass diese Denkstörungen erst durch Wechselwirkung mit Persönlichkeitsmerkmalen, biographischen Daten und Umweltfaktoren zur Ausbildung individuell gestalteter psychotischer Symptome führen (1911).

Emil Kraepelin hingegen vermutete als Ursache schizophrener Denkstörungen (1896) eine Störung der Aufmerksamkeit und Konzentration. Diese Vermutung wird durch Ergebnisse neuropsychologischer Tests unterstützt, die zeigen, dass Schizophreniekranke bei Testaufgaben, die eine erhöhte Konzentration erfordern, besonders leicht durch irrelevante Reize ablenkbar sind.

Solche Beobachtungen führten zur Hypothese von Broadbent, dass diesen Aufmerksamkeitstörungen ein «Filterdefizit» in der frühen Verarbeitung psychosensorischer Reize zugrunde liegt. Dieses Filterdefizit schränke die Fähigkeit ein, unter den unzähligen Impulsen die auf ein Individuum treffen, die irrelevanten und störenden Reize auszublenden. Oder anders formuliert: Die Informationsverarbeitung von Schizophreniekranken weist nach diesem Modell einen zu geringen Signal-/Rauschabstand auf. Dies führe letztlich zu einer Informationsüberflutung nachfolgender Verarbeitungsstufen und zur Einschränkung höherer Hirnleistungen (Abb. 1). Der Versuch, diese Filterstörung funktionell und anatomisch zu lokalisieren, stellt einen der Grundpfeiler biologischer Schizophrenieforschung dar.
Abbildung 1: Die «Zentralinstanz», eine Art zentrale Steuerinstanz, richtet sich aktiv auf Reize der Innen- und Aussenwelt aus und greift unter Berücksichtigung von motivationalen und emotionalen Antrieben aktiv in die Einleitung von Handlungen ein. Die Zentralinstanz erfährt sich dabei selbst als ein handelnder «Körper», beziehungsweise als entscheidendes «Ich», da sie über rückgekoppelte Schleifen von der neuralen Körperrepräsentanz fortlaufend über körpereigene und körperfremde Vorkommnisse informiert wird. Dringen gemäss der «Filter-Defizit»-Hypothese zu viele Reize auf die Zentralinstanz ein, kommt es zu einer Vermengung der inneren und äusseren Wahrnehmung (Sinnestäuschungen), Ich-Störungen sowie einer geschwächten Handlungseinleitung und -kontrolle.

Transmitterstörungen

Denken, emotionales Erleben und Verhalten basieren auf der Zusammenarbeit unzähliger Nervenzellen, die ihre Informationen über chemische Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, austauschen. Werden solche Neurotransmitter von den Nervenzellen ausgeschüttet, docken sie an der Nachbarzelle an spezifische Rezeptoren an, die das Signal weiterleiten. Über vierzig Neurotransmitter und ein Vielfaches an Rezeptoren sind bis heute entdeckt worden. Dabei lassen die aktuellen Ergebnisse der Schizophrenieforschung vermuten, dass mindestens drei Transmittersysteme an der Entstehung psychotischer Symptome beteiligt sein dürften.

Die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie basiert auf der Beobachtung, dass Dopamin-Agonisten, wie Amphetamin, bei Gesunden schizophrenieähnliche Psychosen verursachen können und dass klassische Antipsychotika als Dopamin-Antagonisten (Dopamin-Rezeptorenblocker) bei Schizophreniekranken therapeutisch wirksam sind. Es wurde deshalb postuliert, dass bei Schizophreniekranken im Gehirn zuviel Dopamin ausgeschüttet wird.

Diese Annahme musste in den letzten Jahren insofern revidiert werden, als Dopamin-Antagonisten nur Positivsymptome der Schizophrenien (Denkstörungen, Halluzinationen, Wahnvorstellungen), jedoch kaum Negativsymptome (zum Beispiel Apathie, Freudlosigkeit) wirkungsvoll beeinflussen. Es scheint sogar so zu sein, dass Negativsymptome und kognitive Defizite auf einem Dopaminmangel beruhen, wie neuere Forschungen mittels PET zeigen. Bei Schizophrenen liegen somit wahrscheinlich sowohl Zustände des Dopaminmangels als auch Zustände vermehrter Dopaminaktivität vor.

Es ist aber durchaus vorstellbar, dass Schizophrenien gar nicht auf einer Störung des Dopaminsystems basieren, sondern dass diese Veränderungen im Dopaminsystem lediglich sekundäre Kompensationsversuche einer anderen, primären Störung sind. Wie unsere eigenen Ergebnisse der Modellpsychosenforschung mit den Halluzinogenen Psilocybin und Ketamine und die Wirkprofile neuer atypischer Antipsychotika zeigen, kann auch eine exzessive Aktivierung des serotonergen beziehungsweise Hemmung des glutamatergen Trasmittersystems zu schizophrenieartigen Symptomen führen.

Neue Befunde über Veränderungen in der Dichte von Serotonin- und Glutamat-Rezeptoren bei Schizophreniekranken erhärten diese alternativen Hypothesen. Ebenso verdichten sich Hinweise auf Störungen im GABAergen-System. Ob diese vermuteten Transmitterstörungen verschiedenen Subtypen von Schizophrenien zugrunde liegen oder ob diese Störungen sich letztlich gegenseitig bedingen und auf eine noch unbekannte Ursache zurückzuführen sind, ist Gegenstand intensiver Forschung.

Verminderte Stirnhirnaktivität

Die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) stellt ein bildgebendes Verfahren dar, das sich besonders zur Aufklärung neurobiologischer Korrelate psychotischer Störungen eignet. Mit der PET-Methode können bei Patientinnen und Patienten Hirnaktivitätsbilder erstellt werden, die Rückschlüsse auf die Lokalisation funktioneller Störungen erlauben. Ebenso können mit dieser Methode Neurorezeptoren und Neurotransmitterinteraktionen direkt am lebenden Menschen quantitativ untersucht werden. Mit dieser Methode findet sich als ein Hauptbefund bei chronisch schizophrenen Kranken eine verminderte Stirnhirnaktivität («Hypofrontalität»), die zur Entstehung von Negativsymptomen wie Antriebsmangel und Affektarmut beitragen dürfte.

Interessant ist auch die Beobachtung, dass die Aktivierung des Stirnhirns bei Durchführung kognitiver Leistungstests bei chronischen Schizophreniekranken im Vergleich zu Gesunden vermindert ist und dass diese Unterfunktion mittels Dopamin-Agonisten positiv beeinflusst werden kann. Dieser Befund unterstützt die Hypothese, dass bei chronisch schizophren Erkrankten im Stirnhirn zuwenig Dopamin vorhanden ist.

Im Gegensatz dazu sind PET-Studien mit akut psychotischen und im Idealfall medikamentös unbehandelten Schizophrenen mit Positivsymptomen bedeutend schwieriger durchzuführen. Obwohl bis anhin nur wenige Studien vorliegen und die Resultate widersprüchlich sind, scheinen akuterkrankte unbehandelte Schizophrenieerkrankte im Vergleich zu chronischen und behandelten Kranken eine Aktivitätszunahme im Stirnhirn und in den Grosshirnkernen (Striatum) aufzuweisen.

Modellpsychosen

Eine andere Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen Positivsymptomatik und Hirnaktivitätsmustern zu untersuchen, eröffnet das Studium künstlich ausgelöster Modellpsychosen mittels Halluzinogenen. Halluzinogene Substanzen sind natürliche oder halbsynthetische Stoffe, die bei Gesunden kurzzeitig und vorübergehend ein psychotisches Syndrom bewirken, das der

Symptomatik akuterkrankter Schizophrener mit Positivsymptomen nahekommt. Da die Rezeptorprofile einzelner Halluzinogene schon aufgeklärt sind, erlauben solche Modellpsychosen, nicht nur funktionelle Korrelate psychotischer Störungen zu studieren, sondern auch spezifische Hypothesen über die daran beteiligten Transmittersysteme zu formulieren.

Zur Überprüfung der Serotonin- und Glutamat-Hypothese bei Schizophrenien haben wir deshalb bei freiwilligen Probanden die Wirkung der Halluzinogene Psilocybin und Ketamin auf die regionale Hirnaktivität mittels PET untersucht. Ein Hauptbefund unserer Studie weist auf, dass psychotische Positivsymptome mit funktionellen Veränderungen komplexer neuronaler Netzwerke einhergehen. Insbesondere korrelieren Grössenvorstellungen, Entfremdungserlebnisse und Halluzinationen mit einer markanten Überaktivität des Stirnhirns («Hyperfrontalität»), aber auch mit Aktivitätsveränderungen im Striatum, Schläfen- und Hinterhauptslappen, während angstvolle Ich-Entgrenzungen mit einer Hyperaktivität des Thalamus einhergehen (Abb. 2).

Diese Befunde sind insofern bedeutsam, als Ketamin auch bei früheren Schizophreniekranken, die asymptomatisch sind, eine vorübergehende Stirnhirnüberaktivität und psychotische Symptome ausgelöst hat, wie kürzlich eine Studie des National Institute of Mental Health (NIMH, USA) zeigte.

Abbildung 2: Das Cortico-Striato-Thalamo-Cortikale-Modell (CSTC-loop) der psychosensorischen Informationsverarbeitung geht davon aus, dass die zum Grosshirn aufsteigenden Reize der Innen- und Aussenwelt über den Thalamus geleitet und dabei «filtriert» werden. Eine Hemmung der glutamatergen (-Glu), aber auch eine exzessive Steigerung der dopaminergen (DA) oder serotonergen (+ 5-HT) Neurotransmission müssten nach diesem Modell zu einer Öffnung des «thalamischen Filters» und somit zu einer Reizüberflutung des Grosshirns und akut psychotischen Symptomen führen.

Neuronale Netzwerkprobleme

Die oben beschriebenen Befunde weisen darauf hin, dass psychotische Prozesse nicht auf Störungen einzelner Hirnregionen, sondern auf Dysfunktionen ganzer Netzwerke beruhen dürften. Dabei spielen vermutlich Regelschleifen, die Stirnhirn, Striatum und Thalamus verbinden (CSTC-loops), eine zentrale Rolle (Abb. 3).

Nach Ansicht verschiedener Schizophrenieforscher kommt dem Thalamus als Knotenpunkt in diesen Regelschleifen die Rolle eines «Filters» zu, indem er die von der äusseren und inneren Welt zum Grosshirn aufsteigenden Sinnesinformationen reguliert. Tierexperimentelle Befunde zeigen, dass die Nervenbahnen, die vom Stirnhirn zu den Basalganglien verlaufen und ihre Informationen mit dem Neurotransmitter Glutamat übertragen, die thalamische «Filterfunktion» aufrechterhalten.

Bricht die glutamaterge Nervenübertragung zusammen, müsste dies zu einer Öffnung des thamischen «Filters», zu einer Reizüberflutung und damit zu Funktionsstörungen des Grosshirns, insbesondere des Stirnhirns, führen. Die thalamische Filterfunktion könnte gemäss dem CSTC-Modell auch durch eine erhöhte Dopamin- oder Serotoninausschüttung gestört werden. Diese Hypothese wird durch den Hyperfrontalitätsbefund in der Ketamin- und Psilocybin-Psychose unterstützt.

Dem Stirnhirn werden integrative Funktionen im Zustandekommen von Selbst- und Umweltwahrnehmung und in der Regulation von Affekt, Motivation und Handlung zugeordnet.

Positivsymptome der Schizophrenien (Halluzinationen, Denk- und verschiedene Formen der Ich-Störungen) lassen sich demnach hypothetisch als Resultat einer Reizüberflutung des Stirnhirns infolge eines defekten thalamischen Filters erklären. Diese psychotischen Symptome könnten auf Störungen des im Stirnhirn lokalisierten Arbeitsgedächtnisses basieren. Defizite des Arbeitsgedächtnisses könnten zu einer Verzerrung der Selbst- und Umwelteinschätzung beitragen, indem Sinnesinformationen der Aussen- und Innenwelt miteinander vermengt werden. Die Verzerrung der Selbsteinschätzung würde wiederum zu Denk- und Ich-Störungen führen.

Wahnideen und Negativsymptome können hingegen mit dem Filterdefizit-Konzept nicht befriedigend erklärt werden. Einige Forscher nehmen an, dass Negativsymptome eine Folge struktureller Veränderungen sind, die sich als Kompensationsversuch auf akut psychotische Episoden einstellen. Diese Spekulation ist zwar reizvoll, jedoch experimentell noch wenig belegt. Eine andere Interpretation geht davon aus, dass Negativsymptome ein unabhängiges Geschehen darstellen.

Abbildung 3: Die PET-Aufnahmen zeigen, dass bei Probanden mit maniformen Ich-Störungen, Grössenideen, Euphorie und Halluzinationen ein komplex verändertes Hirnaktivitätsmuster vorliegt, das Veränderungen im Stirn-, Schläfen- und Hinterhauptslappen sowie in limbischen Hirnregionen und Thalamus umfasst (grün = Zunahme, rot = Abnahme der relativen Aktivität).

Heterogene Krankheitsgruppe

Es ist aber nicht auszuschliessen, das Schizophrenien, wie eingangs erwähnt, eine heterogene Krankheitsgruppe darstellen und verschiedenartige Ursachen zu verschiedenen Krankheitserscheinungen beitragen. Historisch darf nicht vergessen werden, dass das ursprüngliche Konzept von Kraepelin unter dieser Erkrankung eine Restgruppe von anders nicht einteilbaren Erkrankungen mit frühem Krankheitsbeginn (in der Pubertät) und ungünstige Prognose zusammenschloss. Beide anfänglichen Einschlusskriterien mussten in der bald hundertjährigen Schizophreniegeschichte revidiert werden. Deshalb ist es vielleicht erfolgversprechender, psychotische Syndrome wie in den Modellpsychosestudien zu untersuchen, als nach einer einheitlichen Ursache einer wahrscheinlich höchst heterogenen Krankheitsgruppe zu forschen.


Dr. Daniel Hell ist ordentlicher Professor für Klinische Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Dr. Franz X. Vollenweider ist Lehrbeauftragter an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98