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unimagazin Nr. 3/97

 

He’s gone to borrow some fire

Warum sind wir kreativ, wie entstehen unsere Ideen, wie können wir Neues integrieren? Gedanken über das Erforschen des Denkens und Lernens

VON VERENA STEINER
Und irgendwann, vielleicht beim Betrachten einer Wolke, ist die Lösung plötzlich da.

I
ch erinnere mich noch gut an jenen Sommermorgen, an dem ich früher als sonst aufwachte. Meine Schwestern schliefen noch; neben meinem Kopfkissen lag das Lesebuch bereit. Eigentlich hätte ich das Gedicht am Vorabend auswendig lernen sollen, aber ich hatte es vergessen, und so musste ich mir die Zeilen am frühen Morgen einprägen:
Lieblich war die Maiennacht / Silberwölklein flogen /ob der holden Frühlingspracht / freudig hingezogen. / Schlummernd lagen Wies' und Hain / jeder Pfad verlassen (…)

Anfang einer Entdeckungsreise

Und weiter ging's zum Friedhof und zum Kreuz. Ich konnte es kaum fassen: So leicht und schnell war mir das Auswendiglernen noch nie gefallen; statt gestraft zu werden für das Vergessen der Hausaufgaben geschah ein Wunder!
Während der Schulzeit machte ich noch weitere Entdeckungen, die mir das Lernen erleichterten. Ich behielt diese Erkenntnisse jedoch wohlweislich für mich. Denn unsere Lehrer hatten eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Schüler lernen sollten. Abweichungen davon galten als suspekt und frech. Der spielerische Umgang mit dem Lernen war genauso tabu wie das freihändige Velofahren. Trotzdem führte ich meine Entdeckungsreise fort.

Je mehr ich später lernte, um so leichter fiel es mir. Und irgendwann wurde Lernen, Denken und Entdecken zum Bedürfnis. Die Glücksmomente des Begreifens neuer Zusammenhänge oder gar völlig neuer Erkenntnisse wurden immer häufiger; das Mysterium Gehirn begann, mich immer mehr zu faszinieren.

Gedanken entstehen

Oft genügt ein bestimmtes Wort oder ein Satz, um in unserem Geist eine ganze Lawine von Bildern und Geschichten auszulösen. So berichtet die Schriftstellerin Eudora Welty über eine Bemerkung, die sie spontan zu ihrer ersten Geschichte inspirierte:

My first good story began spontaneously, in a remark repeated to me by a traveling man – our neighbor – to whom it had been spoken while he was on a trip into North Mississippi: «He’s gone to borrow some fire.»

Auch ich spüre beim Schreiben dieser Zeilen, wie von diesem kurzen Satz eine Magie ausgeht, die mich sofort in ihren Bann zieht. Vor meinem geistigen Auge erscheint sogleich der Mann; ich sehe seinen fleckigen Hut, sein wettergegerbtes Gesicht, seine Kleider und rieche die karge, trockene Steppenlandschaft – ich würde die Geschichte am liebsten weiterspinnen.

Das Gehirn arbeitet nicht immer so rasch. Manchmal gibt es sehr komplexe Probleme, mit denen sich unser Geist länger beschäftigen muss. Zunächst streunen die Gedanken ungestüm herum, wie ein Rudel Hunde, das die Fährte verloren hat. Dann beruhigt sich die Suche; man denkt nicht mehr aktiv darüber nach, und das Problem verliert sich ins Unbewusste. Und irgendwann – beim Aufwachen, beim Warten aufs Tram oder beim ruhigen Betrachten der Wolken – ist die Lösung ganz unvermittelt da. Heraufgestiegen wie eine Gasblase, die aus den dunklen Untiefen des Moorsees plötzlich irgendwo an die Oberfläche kommt.

Wie kommen wir intuitiv auf Lösungen, wie generieren wir Ideen, wie funktioniert unser Gehirn? Der Neurologe und Nobelpreisträger Gerald M. Edelman nennt das Gehirn das komplizierteste materielle Objekt im Universum und vergleicht es mit einem von Leben summenden und vibrierenden Dschungel. William O'Brien, früherer Präsident der Hanover Insurance Company, hat unser Denkorgan so umschrieben: «The greatest unexplored territory in the world is the space between our ears.»

Dieses mächtigste unerforschte Territorium beschäftigt in den neunziger Jahren – im Jahrzehnt des Gehirns – unzählige Forscherinnen und Forscher aus fast allen Bereichen der Wissenschaften. Man erfährt zum Beispiel, dass Fremdsprachen nicht in derselben Region des Gehirns gespeichert werden wie die Muttersprache. Oder dass bei einer Gruppe von begabten Musikerinnen und Musikern, die schon als Kind sehr viel übten, ein bestimmtes Hirnareal grösser ist als bei andern Menschen. Als Sensation wurde die empirisch gefundene Erkenntnis gewertet, dass Bilingues in der Regel besser rechnen können.

Oft kommen mir solche Resultate vertraut vor, wie eine Erinnerung an etwas schon einmal Dagewesenes. Wir können diese Erinnerung schärfen, können unsere Denkvorgänge ein Stück weit verfolgen und so immer mehr über unser eigenes Denken und Lernen erfahren.

Das eigene Denken erforschen

Viele Denker, Dichter und Künstler – sowohl Männer wie Frauen – haben die verschlungenen Pfade ihrer Gedanken und Ideen beschrieben. Diese Zeugnisse aus der Sicht von innen sind ungemein inspirierend und regen an, über die eigenen mentalen Vorgänge nachzudenken. Ich wünsche mir, dass sich auch Forscherinnen und Forscher in vermehrtem Masse mit dem Beobachten des eigenen Denkens und Lernens befassen und darüber reden und schreiben. Denn um den Rätseln unseres Gehirns auf die Spur zu kommen, braucht es wohl beides – eine Synthese aus wissenschaftlichem Erforschen und eigenen Erkenntnissen.



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unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Daniel Bisig (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 14.10.98