Magazin der Universität Zürich Nr. 4/96

Sport und Höhenmedizin

Der Mensch ist eigentlich für grosse Höhen nicht geschaffen, also muss er die Höhenanpassung mit «Passion» erdauern. Dabei geht die akute Höhenanpassung über in die, relativ zur Höhe, Tage bis Wochen dauernde Langzeitanpassung. Höhentauglich wird schliesslich nur, wem diese Anpassung gelingt. Ein Rückblick in die Literatur und ein Einblick in die Sportmedizin illustrieren, wie die Höhenanpassung erworben werden kann.

VON ERWIN A. KOLLER

Bei Hofrat Behrens, dem Mediziner im «Zauberberg», war praktisch jeder Neuankömmling aus dem Tiefland mindestens «total anämisch und kurbedürftig». So hatte der Hausarzt in München Thomas Mann gewarnt, ja, er riet ihm, den Besuch bei Katja im Davoser Wald-Sanatorium möglichst kurz zu gestalten. Derart belehrt, leistete Thomas Mann seiner Frau bei der Liegekur Gesellschaft – und erkältete sich. Und wie er später von seinem jungen Hans Castorf erzählte, unterzog er sich einer Untersuchung, bei welcher der Arzt eine «Dämpfung» über seinen Lungen feststellte und ihm empfahl, sich hier ein halbes Jahr in die Kur zu begeben. Thomas Mann aber hatte mehr Vertrauen zu seiner natürlichen Heilung als die Spezialisten des Sanatoriums und fuhr nach Ablauf der geplanten drei Wochen im Juni 1912 nach Hause – und schrieb den «Zauberberg». Der Roman erschien 1924 und lebt wie das «verzauberte» Haus und die verzaubert-verwandelte Klinikwelt heute noch: Mit Einführung der Tuberkulostatika war seit den 60er Jahren die Tuberkulose stetig zurückgegangen und mit den Kurpatienten auch die Sanatorien. Diese wurden, eines nach dem andern, renoviert zu Höhenkliniken und, wo die Patienten ausblieben, mit Whirlpool und vier Sternen versehen zum Sporthotel erhoben.

Kranke in der Höhe und Höhenkranke

Die verbliebenen, meist staatlichen Höhenkliniken widmeten sich fortan der Behandlung von Chronischkranken aller Art und, mit Hinwendung zur Bioklimatologie, vor allem den Allergikern, den Bronchitis- und Asthmakranken. Hierbei dachte man, «dass bei zwei dynamischen Systemen Veränderungen in der Atmosphäre Veränderungen im Lebewesen verursachen», dass also «die biotropen Reize des Klimas eine Reaktion im Organismus auslösen» (P. Zuidema, 1968). Das alpine Klima hat unter diesen biotropen Reizen eine besondere, ja spezifische Wirkung durch den erniedrigten Luftdruck bzw. durch den erniedrigten Sauerstoffdruck der Atmungsluft und des arteriellen Blutes (Partialdruck von Sauerstoff, PaO2), welcher über Chemorezeptoren die akute Höhenanpassung (Adaptation) in Gang setzt.

Das Gelingen der Adaptation entscheidet über die Höhentauglichkeit und die Gesundheit in den Bergen. Der Mensch ist für grosse Höhen nicht geschaffen, also muss er die Adaptation erdauern, um sie zu erwerben. Die Adaptation geht über in die, relativ zur Höhe, Tage bis Wochen dauernde Langzeitanpassung (Akklimatisation), welche die Korrektur des Sauerstoffmangels («Hypoxie») und die Normalisierung des Milieu intérieur (das heisst des Säurewerts, pH, durch Reduktion der Alkalireserve) zum Ziele hat. Dies gelingt unter Ruhebedingungen nur in Höhen bis 2000 oder bestenfalls 3000 Meter, in grösseren Höhen bleibt die Korrektur des Sauerstoffmangels unvollständig. Die Chemorezeption des Sauerstoffdruck-Abfalls durch die Höhe aktiviert reflektorisch Atmung, Kreislauf und sympathisches System, welches den Organismus auf Aktivität und Belastbarkeit umorientiert.

Diese vegetative Umstellung im Zuge der akuten Anpassung entscheidet über Segen oder Fluch, Gesundheit oder Krankheit in der Höhe. Viele Allergiker – zahlenmässig hauptsächlich jugendliche Asthmapatienten – werden allein mittels Umgebungs- und Klimaänderung samt Allergenreduzierung sowie atemmechanisch durch die dünne Luft für das allgemeine Wohlbefinden profitieren. Beim Asthmatiker vermag zudem die akute Aktivierung des sympathischen Systems in der Höhe – unterstützt durch dosierten Sport – den Gegenspieler, die parasympathische Bronchokonstriktion und -sekretion zu mildern und damit die Medikamenten-Dosis vorübergehend zu senken. Auch junge Gesunde, vor allem Sportler, werden die «ergotrope» Sympathikusaktivierung, wenn sie sie überhaupt wahrnehmen, körperlich nutzen.

Das Herz signalisiert: So nicht

Diese sympathische Aktivierung «erleiden» in der Höhe hingegen jene Kranken und Alten, deren körperliche Belastbarkeit vermindert ist; sie ertragen mittlere Höhen nur, wenn die Höhenexposition unspürbar langsam vor sich geht. So machten noch vor 30 Jahren Lungenpatienten aus den Niederlanden auf der Reise nach Davos oft Zwischenstation in Landquart: Die Höhenanpassung muss erdauert werden. Denn auch gesunde Kinder, Jugendliche und Ungeduldige jeden Alters mit wachem sympathischem System riskieren nämlich bei Missachtung dieser Regel – also bei zu raschem und zu hohem Aufstieg – immer wieder eine sympathische Überreaktion; diese ist möglicherweise einer der Gründe für die konstitutionelle Neigung zur Höhenkrankheit mit Ödem des Hirns, der Lungen oder des Gesichts. Und nicht selten schlägt ein zu hastiger Anpassungsversuch mit starker Herzbeschleunigung auf mittleren und grossen Höhen plötzlich um in eine bedrohliche Herzverlangsamung («vagal escape»), so als hätte das Herz signalisieren wollen: So nicht!

Paradoxerweise geschieht Analoges auch hochtrainierten Extremsportlern: Triathleten und Marathonläufer orientieren ihre Atmungs- und Kreislaufreaktionen in der Höhe offenbar weitgehend an der Muskel- und Gelenkssensorik. Auf den Sauerstoffmangel selbst aber reagieren sie, ruhig liegend langsam in die Höhe gebracht, kaum, um dann aber auf mittleren Höhen überraschend zu kollabieren. Zusammenbrüche analoger Art (hypoxische Vasomotorenschwäche mit Abfall des diastolischen Blutdruckes) kündigen sich im allgemeinen bei Nichtakklimatisierten an, vor allem nachts, mit Kopfweh, Übelkeit und Schwächegefühl, objektiv durch langsames Versagen des peripheren Gefässwiderstandes auf und über 4000 Meter, bei Höhenakklimatisierten auf und über 6000 Meter. Jetzt sind Sauerstoffgaben (mit Kohlendioxid) und sofortiger, begleiteter Abstieg vonnöten. Solche Zwischenfälle signalisieren dem Alpinisten die kritische Höhe.

Zum vornherein sind für die Höhe eine Reihe chronischer Krankheiten ungeeignet, bei denen bereits die Auffahrt zur Höhenklinik zu akuten Komplikationen führen kann. So sind etwa Herzkrankheiten mit Belastung des Lungenkreislaufes (Mitralstenose; Cor pulmonale; Linksinsuffizienz), Herzrhythmus-Störungen, Koronarerkrankungen und gewisse Hypertonieformen für Höhenkuren eindeutig kontraindiziert. Wer sich alt oder krank fühlt, der Depressive wie der Herzpatient, meidet die Höhe instinktiv aus Angst vor der «Anstrengung». Offenbar ist es vor allem die spürbare Herzbelastung, welche Kranken und Alten die Höhe vergällt.

Sport und Höhe

So vielen Wenn und Aber, ja klaren medizinischen Kontraindikationen gegen die Höhe, stehen Sonne und Berge, «Wellness and Animation» des heutigen Fremdenverkehrsgewerbes gegenüber. Seit dem Untergang der olympischen Idee durch die Sportpolitik wird ein scharfer Kampf um die Austragungsorte ausgefochten. So wurden denn alpine Skiweltmeisterschaften im Hochsommer (Portillo) und olympische Sommerspiele auf 2300 Meter (Mexico City), also auf Höhe der Station Eigergletscher, durchgeführt; hierzu wurde der Sportler wenig, der Mediziner nicht gefragt.

Noch vor 100 Jahren hatte der Schweizerische Bundesrat bei der Planung der Jungfrau-Bahn eine «Menschenverträglichkeitsprüfung» verlangt und dann eine deutliche Leistungsverminderung selbst bei höhengewohnten Arbeitern festgestellt. Seither weiss man, dass grosse Höhen leistungsfeindlich sind, der Muskelschwund der Himalaja-Heimkehrer macht dies offensichtlich. Bei akuter Exposition auf mittlere Höhen mag die sauerstoffabhängige (aerobe) Leistung sowohl von der Atmungs-Kreislauf-Aktivierung wie von der Stoffwechselwirkung kurzzeitig profitieren.

Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die rohe Muskelkraft, die einzig vom Muskelquerschnitt, nicht aber von der Sauerstoffzufuhr und Kohlendioxidabgabe abhängig ist, durch mittlere Höhen berührt wird, solange die Arbeitszeit in der Grössenordnung von Sekunden bleibt. Dies gilt für Wurf- und Sprungdisziplinen wie für Sprintstrecken, bei denen man, abgesehen vom verminderten Luftwiderstand, auch noch positive Aspekte seitens des hormonellen «Fight or flight»-Systems erwarten kann. Daran erinnern leider nur zu oft Höhen- und Hügelwein-Enthemmte, also grosshirngeschwächte Pistenrowdies, die rasend manifestieren, dass das empfindlichste Organ auf Sauerstoffmangel und Stresshormone das Hirn ist: Ihre Adaptation erfolgt dann post festum zu oft auf der Spitalterrasse.

Wer den Zauberberg liebt und warum

Wer im Dischmatal des «Zauberbergs» zu Winterbeginn die Welt-Langlaufelite und im Frühsommer afrikanische Mittel- und Langstreckenweltrekordler beobachtet, wie sie dem Bach entlang nach langem Lauf die kurze Steigung zur Teufi hinauf nehmen, fragt nach dem Sinn des Höhentrainings. Denn das Dauerleistungsvermögen (aerobe Kapazität) wird selbst auf mittleren Höhen (bis 2000 Meter) leicht reduziert, um sich dann via Atmung-, Herz- und Sauerstoff-Transport-Ökonomisierung (Akklimatisation) innert zwei bis vier Wochen wieder zu erholen und um sich im Tiefland beim Austrainieren schliesslich zu verbessern. Das häufig nicht konforme Verhalten von aerober Kapazität und effektiver Leistung im Dauerwettbewerb ist ­ abgesehen von stressbedingten Erkältungen und Verletzungen ­ möglicherweise Folge der Überbeanspruchung der anaeroben Kapazität (Abnahme der Kreatininphosphatspeicher) durch die bei Laufwettbewerben strategisch immer wichtigeren Zwischenspurts. Um auch die muskuläre Fähigkeit und damit die Gesamtleistung im Höhentraining zu fördern, folgt so dem täglichen Ausdauerlauf der kurze Kraft- und Schnelligkeitstest hinauf zur Teufi: Ja, auch Nourredine Morceli liebt den Zauberberg.


Dr. Erwin A. Koller (gpkoller@physiol.unizh.ch)ist ausserordentlicher Professor am Physiologischen Institut der Universität Zürich.


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Last update: 09.07.97