Magazin der Universität Zürich Nr. 4/96

Sporterziehung: Vom strammen Führen zur Lernberatung

Seit genau 60 Jahren werden an der ETH Zürich Turn- und SportlehrerInnen ausgebildet. In dieser Zeitspanne hat sich einiges bewegt, verändert, gewandelt. Motorisches Lernen ermöglichen, heisst die Devise.

VON KURT MURER

Im Wintersemester 1936/37 wurde im Sinne eines zentralen «Ergänzungskurses» ein zweisemestriger Studiengang zur Erlangung des Eidgenössischen Turn- und Sportlehrerdiploms II eingerichtet. Ein paar wenige Studierende, im Durchschnitt fünf pro Jahr, besuchten diese Zusatzausbildung für das Höhere Lehramt im Fach Sport. Administrativ war dieser Kurs der Abteilung Biologie angegliedert, also nicht vollumfänglich in die ETH-Strukturen integriert. Es ist gerade deshalb erwähnenswert, dass die Leitung der Ausbildung von einem ausserordentlichen Professor für Leibesübungen (Professor J. Wartenweiler, 1915–1976) wahrgenommen wurde.



Auch ausserhalb der Schule Körpererfahrung und Bewegungsfreude vermitteln ­ neue Aufgaben.

1977 wurde die Studienrichtung zu einem vierjährigen Vollstudium ausgebaut. Die Zahl der Studierenden wuchs stetig. In den achtziger Jahren wurden bereits etwa 50 Prozent aller Turn- und SportlehrerInnen der Schweiz an der ETHZ ausgebildet, das heisst 40 bis 50 DiplomandInnen erhielten pro Jahr das Diplom der Eidg. Sportkommission (ESK). 1989 wurde die Abteilung für Turn- und Sportlehrer gegründet. Eine teilweise ETH-Integration war damit endlich erreicht, doch die DiplomandInnen erhielten und erhalten nach wie vor ein Diplom der Eidg. Sportkommission und nicht ein Diplom der ETH. Trotzdem nahm die Zahl der Studierenden weiter zu. Die Faszination von Sport, Spiel und Bewegung, die vielfältigen Möglichkeiten und Perspektiven erklären wohl das grosse Interesse. Im WS 1996/97 wird zum erstenmal die «Schallgrenze» von 500 Immatrikulierten überschritten. Gegenüber den Anfangszeiten hat sich die Zahl der Studierenden damit verhundertfacht.

Einst: Diplom vom Eidg. Militärdepartement

Neben den rein quantitativen hat es aber einige qualitative und inhaltliche Veränderungen in der TurnlehrerInnenausbildung gegeben. Früher war eher das militärisch stramme Führen ein Markenzeichen für gute Turn- und Sportlehrer. Das Diplom wurde vom Chef EMD (Eidgenössisches Militärdepartement) unterschrieben. In der Zwischenzeit wurde der Sport dem EDI, dem Departement u. a. mit Kultur und Gesundheit, zugeteilt.

Auch das Bild des Turnlehrers hat sich gewandelt. In der Zwischenzeit hat die Lehrperson mehr die Funktion eines Lernberaters übernommen. Gerade heute sind im Umgang mit Kindern und Jugendlichen kommunikative Fähigkeiten sehr gefragt. Viele SchülerInnen wollen wissen, weshalb was wozu gemacht werden soll. Sporterziehung wird nicht mehr primär als machen, sondern als ermöglichen verstanden. Dazu sind zusätzlich sehr hohe Fach- und methodisch-didaktische Kompetenzen wichtig. Neue Fächer wie Trainingslehre und Bewegungslehre liefern dazu notwendiges Hintergrundwissen! Der Anteil der Theorie-, Didaktik- und Praxisfächer ist sehr ausgewogen.

Für den Sportpraxisunterricht ist folgendes festzuhalten: Viele neuen Sportarten, auch Trendsportarten, sind ins Curriculum aufgenommen worden. Aber in der Sportpraxis werden nicht primär sportmotorische Fähigkeiten und Fertigkeiten trainiert. Vielmehr sollen im Rahmen eines exemplarischen Unterrichts Prinzipien zum Beispiel des motorischen Lernens praxisnah erlebt, reflektiert und verstanden werden. Das Sportstudium war und ist entsprechend vielfältig fächerübergreifend. Vernetzung bleibt kein Schlagwort. Wir sind überzeugt, u. a. auf diese Art und Weise den universitären Anforderungen zu genügen und trotzdem eine gute Basis für die Berufsausübung sicherzustellen.

Sportstudium und Lehrerausbildung

Eine Berufsqualifikation, die geprägt ist über all die vergangenen Jahre hinweg von der Grundsatzfrage: Monofach- oder Zweifachlehrer? Anfänglich war das Studium in einem zweiten Fach zwingende Voraussetzung für das Diplom II. Einige Jahre wurden dann aber Spezialisten gefordert. Dies führte zum erwähnten achtsemestrigen Vollstudium. Viele studierten trotzdem zusätzlich ein zweites Fach. Ein 8- bis 10jähriges Studium war die Folge davon. Ein auch volkswirtschaftlicher Unsinn. Zurzeit wird von seiten der Erziehungsdirektorenkonferenz wieder stark die Zweifach- bzw. Mehrfachlehrperson gefordert. Das Pendel schlägt auch diesbezüglich hin und her. Wichtig für uns: Das Fach Sport muss in Zukunft vollumfänglich in diese neuen Lehrerausbildungsstrukturen integriert werden.

Neue Berufsfelder in der Freizeitgesellschaft

Bilanz: Einiges hat sich in den letzten 60 Jahren entwickelt (Studierendenzahl, Studiendauer). Die volle Integration, das heisst Abschluss mit ETH-Diplom, jedoch wurde (noch) nicht erreicht. Eine Professur für Leibeserziehung gibt es nicht mehr. Vielleicht jedoch stehen wir am Endes des 20. Jahrhunderts und am Anfang des 3. Jahrtausends auch in der Turn- und Sportlehrerausbildung an der ETHZ an einer Wende. Folgende Sachverhalte sollen den Optimismus belegen:

Was wir wissen: Nur etwa 50 Prozent der gegenwärtigen Studierenden wollen als Lehrpersonen unterrichten. In der Tat, von den letztjährigen Absolventen haben 58 Prozent eine Anstellung in der Schule, 22 Prozent im Freizeitbereich und 20 Prozent in den übrigen Berufsfeldern gefunden. Die Turn- und Sportlehrerausbildung wird von vielen gewählt, weil man in der Schweiz im Zusammenhang mit Sport und Bewegung nichts anderes studieren kann! Die Abteilung hat Konsequenzen aus diesen Entwicklungstendenzen gezogen. Sport, Spiel, Bewegung bleiben auch weiterhin in der Schule von zentraler Bedeutung. Dies im Sinne eines ganzheitlichen Erziehungsaspekts.

Sport zählt jedoch im weiteren zu den häufigst ausgeübten ausserhäuslichen Freizeitaktivitäten. Eine künftige Gesellschaft mit noch mehr freier Zeit zeichnet sich ab. Weiter verlangen alarmierende Gesundheitszustände speziell von Erwachsenen nach mehr Bewegung auch am Arbeitsplatz. Vor allem der Prävention kommt hinsichtlich individueller Lebensqualität, aber auch vor dem Hintergrund der enormen Kostenexplosion im Gesundheitswesen eine hohe Bedeutung zu.

Für das Schaffen und Betreuen von sinnvollen Bewegungsgelegenheiten braucht es gut ausgebildete Fachleute nicht nur in der Schule, sondern auch an der Arbeit und in der Freizeit. Mit den Komplementärstudiengängen BWL (Betriebswirtschaftslehre), APA (Adapted Physical Activities), TUC (Training und Coaching) versucht die Abteilung seit 1990 diese neuen Berufsfelder für Turn- und Sportlehrer zu öffnen. Die ersten Absolventen haben das entsprechende Zertifikat erhalten, sich in der Praxis weitgehend bewährt und interessante, anspruchsvolle Aufgaben in ausserschulischen Bereichen übernommen.

BewegungsspezialistInnen gefragt

Wir sind überzeugt: Im Gesundheitswesen, in den Bereichen der Prävention und Rehabilitation, sind in Zukunft neben der Ärztin, dem Physiotherapeuten und dem Sportlehrer Spezialisten der menschlichen Bewegung gefragt. Viele neue Berufsfelder im Dienstleistungssektor werden sich entwickeln. Mit einem neuen akademischen Studiengang «Bewegungs- und Sportwissenschaften» soll ein fächerübergreifendes, ganzheitliches, interdisziplinär ausgerichtetes ETH-Diplom geschaffen werden. Ein entsprechendes Projekt liegt vor. Wie vor Jahrzehnten muss wohl auch heute die Abteilung mit naturwissenschaftlichen Studiengängen eine «Göttifunktion» übernehmen. Die ETH-Schulleitung steht der Idee grundsätzlich positiv gegenüber.


Dr. Kurt Murer (murer@sport.ethz.ch)ist Vorsteher der Abteilung für Turn- und Sportlehrer der ETH Zürich.


unipressedienst unizürich-Magazin


unipressedienst ­ Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
http://www.unizh.ch/upd/magazin/4-96/
Last update: 09.07.97