Vom Wissen der Vertreibung

VON HEINI RINGGER

Die Geschichte beginnt mit einer Reise. New York das Ziel. Der Uno-Hauptsitz am East River der Ort, wo das Auge der Uno über die Welt wacht. Der Reisende hat vier Tage Zeit. Vier Tage, um sich in der Organisation umzusehen, die fast alle Regionen der Welt mit all ihren Unterorganisationen bis in die intimsten Winkel durchleuchtet. Das Resultat dieser Bemühungen ist eine ungeheure Datenmenge: Informationen, früher gesammelt in Archiven, heute zusehends gespeichert in Datenbanken.

Mit dem grössten, aktuellen Wissen der Welt lockt der stellvertretende Generalsekretär den Reisenden in die Zentrale dieses Wissens. Nicht ganz unerfahren in der gezielten Wissensuche, muss dieser aber bereits nach zwei Tagen erkennen, dass er trotz offenen Türen vor verschlossenen Türen steht. Zum erdumspannenden «Weltwissen» der Uno gibt es keinen direkten Zugang. Es lebt in Tausenden von Köpfen rund um den Globus. In unendlichen Variationen verankert. Weder zu recherchieren, noch zu erfahren, zu sehen oder zu greifen, geschweige zu begreifen. Eine Gefühl des beruhigenden Nichtwissens stellt sich ein. Alsbald verblasst die Suche nach dem «Weltwissen» und der Blick wird frei durch den Uno-Glaspalast hinunter auf den East River. Dort, mitten im Fluss, fesselt eine kleine, blaubeflaggte Insel die Aufmerksamkeit des Reisenden. Niemand kann etwas von dieser Insel erzählen. Bis der Reisende beim Abschied die Frage nach der Insel auch dem stellvertretenden Generalsekretär stellt. Er weiss um deren Geheimnis. Die Insel ist eine Anhäufung von Gestein. Teil des Aushubmaterials des darunterliegenden Tunnels. Doch was kein Auge aus der nahen Ferne sieht. Die Insel birgt ein Grab – mit den Schreibtischutensilien des verstorbenen Uno-Generalsekretärs. Mit diesem Wissen tritt der Reisende beruhigt seine Heimreise an.

Die allererste Geschichte aber beginnt im Paradies – mit der Vertreibung. Dort, wo Gottes Auge über dem Menschen wacht. Dort, wo der Mensch sich wohlfühlt, hat er sich zu entscheiden. Am Ort der beiden Bäume: dem Baum des Lebens und dem Baum des Wissens. Wäre es möglich gewesen, den Baum des Lebens zu wählen, die Vertreibung wäre ausgeblieben. Doch ohne Vertreibung keine Reise, keine Heimreise, auch keine Wissenschaft. Der Vertriebene hat also den Baum des Wissens, den Weg der Vielheit, der Widersprüche gewählt. Er lässt sich einspannen in die Kräfte der Entwicklung, die Fortschritt und Wohlstand verheissen. Vom Glück der Vertreibung ist keine Rede.

Der Vertriebene beginnt fortan seine Alltagsgeschichten mit dem Einklicken in die weltweite Hirnlandschaft, ins World wide brain. Das Auge erblickt auf dem Bildschirm Orte mit Worten und Bildern. Sie werden dabei wie aus dem Niemandsland erzeugt, das unter Spannung steht. Zeiten unvorstellbarer Wissensfortschritte kündigen sich an. Der Tastendrücker braucht sich nur in den weltweiten «Erinnerungsapparat» einzuklicken. Und schon steht ihm das «Weltwissen» zur Verfügung. Derweil das Auge des Prothesengottes über Tausende von Datenbanken wacht. Der Tastendrücker kann sie jederzeit anzapfen, nackte Informationen weltweit abrufen, herunterladen, intertextualisieren oder kontextualisieren. Die Schlange im Paradies hat ihr Versprechen wieder einmal wahrgemacht: Selber Gott sein wollen, herrschen, worüber es eigentlich nichts zu herrschen gibt. Wenn aber Informationen nur Informationen bleiben und im Kopf kraft unserer Sensibilität für Paradoxien und Zusammenhänge nicht zu Wissen werden, kriecht der Tastendrücker sich schlängelnd und surfend, nackt und mühsam auf seinem Bauch davon. Fern vom Glück des Wissens.

Folgerichtig beginnt die nächste Geschichte mit Fragen. Der Fragende will wissen, was Wissen ist? Wie Wissen entsteht? Wie Wissen vermittelt wird? Wie objektives Wissen in eigene Erfahrung integriert wird? Wie Wissen ausgetauscht, mit anderen geteilt wird? Wie aus vorhandenem, neues Wissen geschaffen wird? Wissen, wie diese Wissensprozesse ablaufen? Wissen, wie individuelle und soziale Wissenskulturen entstehen und diese miteinander interagieren? Und: Was muss man überhaupt wissen, um Wissen zu verstehen? Genügt es nicht, einfach Geschichten zu erzählen, um Wissen und Weisheit zu kommunizieren? Das vorliegende Magazin versucht Antworten auf solche Fragen zu geben.

Die letzte Geschichte erinnert an vergessene Geschichten. An überliefertes Wissen, das in Vergessenheit geraten ist. Ein Wissen, das nichts mit dem «Papageienwissen» gemein hat; nach dem Motto: Man lernt es. Man wiederholt es. Ein Wissen, das vor dem Menschen da ist, das ihm über Zeiten hinweg und aus seiner eigenen inneren Zeit, aus seiner Verborgenheit überliefert wird, ist ihm fremd. Dieses überlieferte, meist vergessene Wissen erinnert – wie jedes Wissen in jeder Zeit das anstrebt – an den Sinn des Lebens. Nähert man sich diesem Wissensbereich, wo es um ein Durchdringen bis zum Wesen von Leben und Tod geht, wandelt sich der Charakter des Wissens. Es bekommt einen persönlichen Charakter bei der Annäherung an das Wesentliche in der Welt und an das Wesentliche des Menschen. Näher beim Wissen des Glücks.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 21.12.98