Der eingebildete Gelehrte

Wer versteht die Formeln, die in den Physikbüchern stehen wirklich? Und sind diejenigen, die sie nicht verstehen, dazu verdammt, in einem Kosmos zu leben, der sich nur jenen erschliesst, die in den Gefilden der höheren Mathematik zu Hause sind? Ein Gang hinter die Oberfläche mathematischer Formeln zur primären Wissensform, den Bildern.

VON ERNST PETER FISCHER

«Auch ihm sagen mathematische Gebilde nur etwas über die Welt, wenn er sie als Symbole wahrnimmt.»
(Illustration: Margarete Tosch-Schütt)

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt von einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Novalis

Als Albert Einstein den Kosmos verstand, verstand Alfred Döblin die Welt nicht mehr. Der Autor von «Berlin Alexanderplatz» protestierte in den Jahren der Weimarer Republik lautstark und öffentlich, als er erfuhr, dass Einsteins allgemeine Relativitätstheorie beziehungsweise die damit verbundenen Gleichungen der Gravitation den Kosmos und seine raumzeitliche Wirklichkeit offenbar besser beschreiben konnte als alle physikalischen Ansätze zuvor, die mit Isaac Newton begonnen hatten und gewöhnlich mit seinem Namen verbunden geblieben sind.

Das Newtonsche Universum präsentierte den Raum als einen riesengrossen Schuhkarton mit geraden Linien und rechten Winkeln, den eine gleichmässig träge fliessende Zeit durchströmte, ohne irgendeine Wechselwirkung mit ihm eingehen zu können. So etwas konnte man sich leicht vorstellen und anschaulich vor Augen führen. Doch mit Einsteins Universum ging dies nicht mehr. Mit ihm tauchten seltsame Verzerrungen und Krümmungen in diesem Karton auf, den es zum einen gar nicht mehr ohne Schuhe geben konnte, der zum zweiten gerade durch seinen Inhalt aus der vertrauten Rechtwinkligkeit gerissen wurde und der zum dritten auch mit dem Strom der Zeit ins Gehege kam und ihn umleitete und verzögerte.

Döblins Problem steckte nicht in dieser Akrobatik der vertrackten Anschauungen, die zufolge Raum und Zeit nicht bloss entleert werden, sondern selbst verschwinden, wenn man versucht, die Dinge aus ihnen zu entfernen. Seine Klage richtete sich vielmehr gegen die Tatsache, dass Einstein sein Wissen und seine Kenntnisse über den Kosmos mit Hilfe komplizierter mathematischer Verfahren gewonnen hatte, in denen es unter anderem um Kovarianz, Tensoranalysis und Differentialgleichungen ging, also um Hervorbringungen des analytischen Verstandes, die für Döblin und die meisten Menschen unverständlich blieben und unzugänglich bleiben. Für sie gab und gibt es in dieser so abstrakt wirkenden Formelwelt nichts zu verstehen, und der Skandal steckt darin, dass sie damit verurteilt zu sein scheinen, in einem Kosmos zu leben, der nur noch den wenigen Eingeweihten zugänglich ist, die genügend mit der Sprache der höheren Mathematik vertraut sind.

Döblin protestierte dagegen, dass der Erfolg des Forschers den Dichter vom Verständnis der Welt ausschloss, in der doch beide gemeinsam lebten. Wieso konnte es einem grossen Teil der Menschen verwehrt sein, etwas über die Strukturen ihrer Welt – über die Geometrie ihres Universums – zu wissen?

Einsteins Durchblick

Gewöhnlich bedauert man an dieser Stelle die Schwierigkeiten der mathematischen Sprache und weist auf die vielen populären Darstellungen hin, die sich mutig an die allgemeine Relativitätstheorie wagen und dabei versuchen, mit ihren gebogenen Räumen und gedehnten Zeiten fertig zu werden. Tatsächlich findet der Interessierte in der entsprechenden Literatur viele unmittelbar anschauliche Darstellungen der vierdimensionalen Raumzeit und ihrer gekrümmten Geometrie, in der wir nach Einsteins Theorie leben (siehe Abbildung 1). Doch können die Leserinnen und Leser damit wissen, was Einstein gewusst hat?

Abbildung 1:
Nach Einsteins Theorie krümmt Masse den Raum; je mehr Masse vorliegt, desto stärker die Krümmung. Die höchste Konzentration von Masse findet sich in bislang nur theoretisch anvisierten schwarzen Löchern. Die Abbildung zeigt, welch eine verzerrte Raumstruktur in der Nähe solch eines Gebildes zu erwarten wäre.

Wer versucht, diese Frage zu beantworten, wird feststellen, dass das Hauptproblem im Nachsatz steckt. Wissen wir überhaupt, was Einstein gewusst hat? Wir wissen, wie seine Formel in Lehrbüchern aussieht (siehe Abbildung 2), und wir wissen aus Experimenten, dass damit bessere Vorhersagen über den Ausgang von Messungen in den kosmischen Weiten des Weltraums zu machen sind, als alle konkurrierenden Theorien dies können. Aber wissen wir deshalb, was Einstein verstanden hat?

Abbildung 2:
Eine Darstellung von Einsteins Gravitationsgleichung, die von einem Laien nicht ohne ausführliche Erläuterungen zu verstehen ist. Um sie geht es hier nicht.

Einsteins Ziel bestand primär sicher nicht darin, eine Formel zu finden. Er wollte vielmehr etwas über die Raumzeitstruktur der Welt wissen, und er hat dies mit Hilfe seiner Formel bewerkstelligt. Aber wenn wir nun so einfach sagen, dass Einstein etwas über das Universum durch seine Gleichung weiss, dann sollten wir uns darüber im klaren sein, dass dies nicht oberflächlich gemeint sein kann, weil das «durch» sehr tief reicht.

Wie tief es tatsächlich gehen kann, hat Werner Heisenberg in seiner Autobiographie «Der Teil und das Ganze» beschrieben. Er stellt dort den Augenblick(!) dar, in dem einige (andere) mathematische Zeichen auf einem Blatt Papier ihm plötzlich ihre Bedeutung offenbaren und er in ihnen die Grundgesetze der Atome erkennt, und zwar auf die folgende Art und Weise: «Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur da vor mir ausgebreitet hatte.»

Wissen durch Gefühle

Es ist wichtig, sich klarzumachen, was Heisenberg bei diesem Erlebnis eigentlich erblickt. Vor ihm auf dem Papier befinden sich doch nur einige mathematische Formeln und Strichgebilde, und aus diesen Zahlen und Figuren kann nur dann das viele Wissen werden, das Heisenberg erregt, wenn die Zeichen den Charakter von Symbolen annehmen.

«Wenn nicht nur Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen…»
(Illustration: Margarete Tosch-Schütt)


Dies gilt natürlich auch für Einstein, denn auch ihm sagen die mathematischen Gebilde nur etwas über die Welt – den Kosmos –, wenn er sie nicht bloss als Abkürzungen für real gegebene Grössen versteht – G für Gravitation oder R für Raum –, sondern wenn er sie als Symbole wahrnimmt und deutet, die nicht
nur seine rational ausgerichteten Fähigkeiten ansprechen, sondern ihm auch durch Gefühle Wissen über die Welt verschaffen, wie Heisenberg es beschrieben hat. Und kennen wir nicht alle auch Wissen, das nur durch Gefühle möglich wird?

Mathematische Formeln sind eben nicht das Wissen selbst, um das es geht, sondern sie liefern nur den symbolischen Schlüssel dazu, und es ist nicht nur anzunehmen, sondern wird hier sogar behauptet, dass es noch andere Schlüssel zu demselben Wissen gibt.

Worauf es dann bei der Weitergabe von wissenschaftlichem Wissen ankommt, lässt sich mit einfachen Worten nun so ausdrücken, dass man dafür sorgen muss, den entsprechenden Schlüssel für Menschen wie den Dichter Döblin zu finden, die in mathematischen Formeln keine Symbole entdecken können. Da ihnen diese Begabung fehlt, muss man Bilder oder andere Symbole finden, die ihnen das Wissen über die Wirklichkeit verschaffen, das Einstein und Heisenberg dadurch bekommen, dass sich für sie die mathematischen Zahlen und Figuren in Symbole verwandeln. In beiden Fällen können schliesslich die inneren Bilder entstehen, die zum Verstehen führen und die Erinnerung werden, die wir zuletzt als Wissen kennen. Wir können alle dasselbe wissen, müssen aber nicht versuchen, dies mit denselben Symbolen zu erreichen.

Wissen durch Einbildung

Der wichtige Begriff ist «Bild», was nicht wie ein «picture» (etwa eine Photographie), sondern wie ein «image» (etwa ein Gemälde) zu verstehen ist. Unser Denken endet mit Bildern, und es beginnt auch als malendes Schauen, wie die Psychologie weiss und wie erneut am einfachsten am Beispiel der Biographie von Einstein verdeutlicht werden kann. Einstein hat nämlich einmal in einem Gespräch mit einem Psychologen erzählt, dass sein wissenschaftliches Denken mit Bildern beginnt, die in ihm weitere Bilder generieren und zu einem Strom werden lassen, den er dann – mühsam genug – in Worte und Formeln übertragen muss, um sie kommunizieren zu können. Diese Erfahrung haben viele Naturforscher gemacht, wie wer sich auf ihre Biographien einlässt, immer wieder feststellen kann.

Der Beitrag der Bilder zum Wissen ist schon bei Einsteins berühmtem Vorgänger Johannes Kepler zu erkennen, der im 17. Jahrhundert nicht nur die drei nach ihm benannten Planetengesetze entdeckt, sondern auch beschrieben hat, wie seinen Erfahrungen zufolge Wissen überhaupt entsteht.

Für Kepler kommt Erkennen durch Bilder zustande, das heisst genauer durch Bilder, die ein Betrachter in sich zur Deckung bringt. Das ihm von aussen durch die Sinne Zugeleitete verwandelt seine Wahrnehmung in Bilder, die dann – so sieht es Kepler – mit anderen Bildern (Imaginationen) verglichen werden, und zwar denjenigen, die in seinem Inneren entstanden sind. Kepler vermutet, dass beide Bilderströme an der Stelle zueinander finden, die man früher Seele nannte. Wenn eine Deckung gelingt, wird man wach, und die Seele leuchtet auf (was in moderner Sprache heisst, dass Zufriedenheit empfindet, wer etwas erkennt).

Was Kepler sagt, lässt sich auch so ausdrücken, dass wir dann etwas über die Welt wissen, wenn wir sie uns durch Bilder zu eigen gemacht haben, wenn wir sie uns also – im Wortsinne – eingebildet haben. Nun heisst das alte lateinische Wort für diesen Vorgang der (mit Bindestrich zu denkenden) Ein-bildung «informatio», und es ist unschwer zu erkennen, dass davon zum einen zwar der Begriff der Information abgeleitet ist, den sich die moderne Gesellschaft gerne als Vornamen gibt, dass zum anderen aber die heutige Verwendung dieses Wortes nichts mehr mit dem Bild zu tun hat, um das er eigentlich geht. Wer heute informiert ist, hat vielleicht viele Daten auf seiner Festplatte oder einige Nachrichten auf der Mailbox, aber keine Bilder mehr im Kopf. Informiert im sinnvollen und Wissen anstrebenden Gebrauch dieser Idee ist aber nur der «eingebildete» Mensch. Seine Bilder stellen die humane Ebene des Wissens dar. Sie sind seine primäre Form.

Wissen durch Wahrnehmen

Die Bilder sind eine Wissensform vor den Begriffen, und sie entstehen durch die menschliche Fähigkeit der Wahrnehmung, die weder philosophisch noch physiologisch ausreichend erkundet ist. Anders ausgedrückt, Wissen beginnt mit Wahrnehmung, und bei diesem Satz kann man sich auf Aristoteles berufen. Seine «Metaphysik» beginnt mit der berühmten Feststellung, dass die Menschen von ihrer Natur aus nach Wissen streben, und sie tun dies – so sieht es Aristoteles –, weil sie Freude an der Wahrnehmung haben.

Wissen macht also Freude, wenn die Wahrnehmung geeignete und gefällige Formen erfasst, und diese Formen können sowohl natürlicher als auch mathematischer Art sein. Wahrnehmung verwandelt Gestaltetes aussen in Gestalten innen. Äussere Formen werden innere und finden dabei das Bild, das unser Wissen wird, weil wir uns daran erinnern können (wobei das «innere» in diesem Wort nicht zu überhören ist).

Der hier vorgestellte Reigen beschränkt sich nicht nur auf komplizierte Wissenschaft, sondern hat seine Anwendungen auch im Alltag – und wahrscheinlich vor allem dort. Wer zum Beispiel mit einem anderen Menschen zusammentrifft, versucht sofort, sich ein Bild von ihm zu machen, und er kann dies ganz selbstverständlich und sofort mit den Mitteln der Wahrnehmung tun, die jedem von Natur aus zur Verfügung stehen.

«Sofort» heisst dabei erneut, dass dieser Zuwachs an Wissen ohne Begriffe gelingt. Wer einem Menschen begegnet, wird vielleicht irgendwann auch seine Haarfarbe oder die Linie seiner Augenbrauen beobachten. Er wird aber zunächst und vor allem sein Gegenüber wahrnehmen, und das heisst, er verschafft sich ein Wissen, das die ganze Person erfasst – seine Neugierde, seine Schönheit und seine Attraktivität zum Beispiel.

Mit anderen Worten, wenn Döblin sich beklagt, dass er den Kosmos nicht verstehen kann, weil er mit den mathematischen Begriffen nicht zurechtkommt, dann versucht er ein grundlegendes Bedürfnis durch ein unpassendes Argument zu rechtfertigen. Man muss ihm keinen Nachhilfeunterricht in Tensoranalysis geben. Man muss ihm ein Symbol oder ein Bild (ein Kunstwerk) vorlegen, das seine Wahrnehmung anspricht, und zwar so, dass dabei das Bild des Kosmos entsteht, das Einstein versteht.

Solch ein Bild oder Symbol zu finden, ist keine Aufgabe, die sich nebenbei erledigen lässt. Man könnte sie Wissenschaftsgestaltung nennen, und für diese Formung des Wissens braucht man mindestens so viel Geschick wie für die Wissenschaft selbst. Bedarf an Wissenschaftsgestaltung besteht in unserer Gesellschaft genug, denn schliesslich wollen wir alle die Welt so verstehen wie Einstein den Kosmos.

Zum Wissen brauchen die Menschen alle beide, die Zahlen und Figuren ebenso wie das wahrnehmende Erleben. Die zu Beginn zitierten Zeilen von Novalis sind also ebenso einseitig (und damit ebenso falsch) wie die Überzeugung, die Natur teile sich uns allein in der Sprache der Mathematik mit. Vielleicht darf man die alten Verse modern öffnen, um in dieser Wendung das Zauberwort hörbar zu machen:

Wenn nicht nur Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen
So viel wie Tiefgelehrte wissen,

Und auch in Bildern und Gedichten
Sich finden wahre Weltgeschichten,
Dann fliegt das Wissen ohne Wort
Dem Menschen zu an seinem Ort.


Prof. Dr. Ernst Peter Fischer, Wissenschaftshistoriker, ist Mitbegründer der privaten Hochschule Holzen, dort zuständig für die Naturwissenschaften, und unterrichtet Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz.


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Last update: 22.12.98