Eine Fussnote zu Sokrates

Es ist nun lange genug von Wissen die Rede gewesen, von seinen Formen, seinem Transfer, seinem Erwerb und Verlust. Sollte es da nicht an der Zeit sein, auch dem Nichtwissen ein paar Zeilen zu widmen? – Ist denn das Nichtwissen nicht auch eine fundamentale Kategorie der Conditio Humana? – Im folgenden also eine Fussnote zur Universalgeschichte des Nichtwissens, einer Geschichte, die freilich erst noch zu schreiben sein wird.

VON WOLFGANG MARX

Mit Sokrates beginnt die Geschichte des bewussten Nichtwissens.

Der berühmte Ausspruch des Sokrates «Ich weiss, dass ich nichts weiss» hat zu manchem Spekulieren Anlass genug gegeben. Schliesslich benötigt man nicht unbedingt die höheren Weihen der analytischen Philosophie, um herauszufinden, dass dieser Satz unter keiner denkbaren Bedingung wahr ist.

Was also wird Sokrates (oder vielleicht auch Platon, der hier im Hintergrund die Feder führt) – was also in aller Welt wird er damit gemeint haben? Denn – davon können wir als sichere Prämisse ausgehen – hinter dieser provokativen Äusserung steckte in jedem Falle ein kluger Kopf.

Der Grund des Dramas

Was uns, so denke ich, mit dieser Provokation klar gemacht werden soll, ist die Tatsache, dass das gesamte Wissen einer Zeit – und das gilt bis in die aktuelle Gegenwart hinein unverändert fort – nicht viel mehr ist als ein Punkt im Universum des Nichtgewussten, Noch-nicht-Gewussten, Nicht-mehr-Gewussten, des Nie-zu-Wissenden.

Diese sokratische Wende ist für die Menschheit nicht weniger radikal, nicht weniger verunsichernd und narzisstisch kränkend, als es die sehr viel später erst erfolgende kopernikanische Wende sein sollte. Und die dadurch ausgelöste Bitterkeit ist noch Jahrhunderte später im berühmten Faust-Monolog deutlich herauszuhören. Im Grunde ist es diese Verzweiflung und fortgesetzte Zurückweisung – «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!» –, die zum eigentlichen Auslöser des Dramas wird.

Ursprünge des Nichtwissens

Nun ist Unwissenheit sicher keine Erfindung der Griechen, im Gegenteil, sie ist zu allen Zeiten eines der am besten und reichhaltigsten verteilten Dinge auf dieser Welt gewesen; aber dieses allgemeine Nichtwissen ist sich in aller Regel seiner selbst nicht bewusst, ist ungenau und schwammig, ist richtungslos.

Erst mit den Griechen beginnt eine intensive Reflexion des Nichtwissens – leider mit dem Blendwerk rhetorischer Illusionisten, deren nicht leicht zu durchschauende Tricks vor allem der Unterhaltung einer (gut zahlenden!) Kundschaft dienten. Mit Sokrates aber beginnt die eigentliche Geschichte des bewussten Nichtwissens, nach ihm kann der Gedanke Gestalt annehmen, Nichtwissen sei im Grunde ebenfalls eine dem Wissen analoge Form der Kognition.

Einer, der bewusst nicht weiss, erfährt ein nicht weiter ableitbares Grundphänomen des Erlebens, einen Zustand der Gewissheit von etwas Fehlendem. Dieser gewissermassen höhere Grad des Nichtwissens setzt ein gewisses Ausmass von Wissen immer schon voraus, vor dessen Hintergrund ein solches Fehlen überhaupt erst erkannt werden kann; denn nur wo Licht ist, kann Schatten sein, nur wo Wissen ist, kann von Nichtwissen gesprochen werden.

Wie der Hase und der Igel

rst ein einigermassen umfangreiches und genaues Wissen lässt eine Abschätzung des Ausmasses von noch bestehendem Nichtwissen zu; und je schneller unser Wissen anwächst, desto mehrfach schneller wächst auch der Bereich des bewusst Nichtgewussten an. Wir sind da, wie der Hase im Märchen, in einen hoffnungslosen Wettlauf verstrickt, wo immer wir mit unserem Wissen auch atemlos ankommen, das Nichtgewusste ist schon triumphierend da – und es wird immer grösser und stattlicher, je weiter wir fortschreiten.

In diesem Sinne war die Unwissenheit noch nie so gross wie heute, wo unser Wissen umfangreicher ist als je zuvor. Und am Ende, wenn wir alles uns Wissensmögliche erfahren haben, wird das Ausmass des Nichtwissens schier überwältigend sein, so überwältigend, dass das Gewusste daneben zu einer vernachlässigbaren Grösse schrumpft. An diesem Ende werden wir zu Sokrates zurückkehren und eingestehen müssen, dass wir im Grunde so gut wie nichts wissen.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 22.12.98