Wissen und Sozialstrukturen

Als tätige Subjekte stützen wir uns im Alltag auf Wissensbestände ab, die uns helfen, das Leben zu meistern. Diese Wissensquellen nach funktional-morphologischen Kriterien zu ordnen, erweist sich als fruchbarer Zugang zur Wissens- und Berufssoziologie.

VON HANS GESER

Zu den faszinierendsten Erkenntnisgewinnen der Soziologie gehört die Einsicht, dass die Formen und Inhalte menschlichen Wissens nicht nur einem histo-rischen Wandel, sondern auch einer kausalgesetzlichen Abhängig-keit von sozialen Verhältnissen unterliegen, diese Sozialverhältnisse aber auch mitkonstituieren.

Die erstere, vom «Sein zum Bewusstsein» verlaufende Kausalitätslogik hat vom Marxismus Ausgang genommen und zu einer «Wissenssoziologie» geführt, die weitgehend auf makrosoziologische Themen beschränkt blieb und deshalb die empirische Forschung wenig befruchtet hat.

Die umgekehrte Blickrichtung knüpft einerseits an die subjektivistische (beziehungsweise phänomenologische) Position, dass jede soziale Realität eine von menschlichen Akteuren interpretierte wenn nicht gar «konstituierte» Realität darstellt, andererseits aber auch an die ungleich generellere Tatsache, dass kognitive Strukturen mitdeterminieren, ob und in welcher Weise Menschen in soziale Beziehungen zueinander treten und welche Formen der sozialen Systembildung (Bürokratien, Sozialbewegungen, Kasten und Stände, Geheimgesellschaften und anderes) günstige Entstehungs- und Überlebensbedingungen besitzen.

Diese letztere Einsicht liegt dem Paradigma einer «funktionalen Wissensmorphologie» zugrunde: einem Theorieansatz, der auf vielfältigen Einzelbefunden (zum Beispiel der Kultur-, Organisations- und Berufssoziologie) aufbauen kann und darauf ausgerichtet ist, im Bereich der Mesosoziologie seine hauptsächliche Analysekraft zu entfalten.

Typologie der Wissensformen

Jeder Mensch, der arbeitet, diskutiert, einkauft oder sonstwie zielgerichtet handelt, stützt sich dabei auf Quellen kognitiver Orientierung (beziehungsweise Wissensbestände), die ihm helfen, die Problemlagen und situativen Rahmenbedingungen, die das Handeln auslösen und die kausalen Mittel-Zweck-Beziehungen, die für ein wirkungsvolles Handeln massgebend sind, zu identifizieren. Dabei erweist es sich als fruchtbar, diese Wissensquellen – ungeachtet ihrer unabsehbaren Vielfalt in allenübrigen Eigenschaften – auf einem eindimensionalen Kontinuum danach zu ordnen, ob sie – bezogen auf den Handelnden – eher einen «internalen» oder einen «externalen» Charakter tragen.

Internales Wissen

Amäussersten internalen Pol des Kontinuums finden sich jene völlig personengebundenen Quellen kognitiver Orientierung, die mit Begriffen wie Talent, Begabung oder Intuition umschrieben werden. Vom Standpunkt sozialer Systeme aus sind es völlig exogene Qualifikationen, die man nicht objektiv messen und nicht planmässig erzeugen, steigern oder interpersonellübertragen kann, so dass sie idiosynkratisch und unkontrollierbar bleiben und mit jedem Personalwechsel wieder aus dem System verschwinden.

Bereits etwas «externaler» ist das Erfahrungswissen, weil es durch umweltorientierte Wahrnehmungs- und Lernprozesse erworben wird. Aber es bleibt ebenfalls ausserhalb sozialer Kontrolle, insofern es individualistisch (das heisst ausserhalb sozial regulierter Ausbildungsprozesse) erzeugt und im Privatbesitz verwaltet wird und höchstens in sehr aufwendigen mikrosozialen Kommunikationsprozessen teilweise weitervermittelt werden kann.

Semi-externales Wissen

Semi-externales Wissen hat die Eigenschaft, dass es auf kollektiver Ebene verwaltet, tradiert, diffundiert und weiterentwickelt wird, andererseits aber nurüber Mechanismen der Internalisierung (zum Beispiel durch Sozialisation oder Ausbildung) im Handeln wirksam werden kann.

Noch relativ gering ist diese Sozialkontrolle beim informellen Traditionswissen, das jene Wissensbestände umfasst, die (wie die Kenntnisse der Muttersprache, der Haushaltarbeit oder des Handwerks) innerhalb bestimmter Volks-, Status- oder Berufsgruppen ohne spezielle Planung und institutionelle Arrangements in beiläufigen Sozialisationsprozessenübermittelt werden.

Ungleich ausgeprägter ist dieseüberpersonelle Verankerung im Falle des formalen Ausbildungswissens, das sowohl in seiner Auswahl, Gestaltung und Explikation wie auch in den Formen seiner Vermittlung einer zuverlässigen institutionellen Steuerung und Normierung unterliegt.

Externales Wissen

Externales Wissen ist von individuellen Einflüssen weitgehend unabhängig, weil es auf materiellen Medien gespeichert wird und in Handlungen wirksam werden kann, ohne dass dafür umfangreiche Prozesse des subjektiven Erlernens notwendig sind.

Schriftliches Regelwissen umfasst die in Textdokumenten (zum Beispiel in Gesetzen, Betriebsanleitungen, Kochrezeptbüchern) explizierten kognitiven Orientierungen, die zwar noch der individuellen Kenntnisnahme bedürfen, aber in Form und Inhalt völlig aufüberindividueller Ebene (etwa von Bürokratien) gestaltet werden.

Materialisiertes Wissen schliesslich ist ein Sammelbegriff für die in der Form physischer technischer Apparaturen oder maschinenlesbarer Programmierung inkarnierten Wissensbestände, die – etwa beim Starten eines Computers – vom individuellen Akteur völlig ohne einschlägige Kenntnisse in Wirkung gesetzt werden können.

Soziale Zuordnungen

Evidenterweise haben all diese Wissensformen ihre je spezifische Affinität zu bestimmten sozialen Strukturen. Intuition und Erfahrung begünstigt zum Beispiel sehr dezentralisiert-individualisierte Sozialsysteme, wie sie etwa in den bürgerlichen Unternehmer- oder Intellektuellenschichten, Künstlergruppen oder in mystisch orientierten religiösen Bewegungen ihre Ausprägung haben.

Das Traditions- und Bildungswissen dient hingegen eher dem Erhalt kohäsiver gemeinschaftlicher Gruppenkollektive (Zünfte, Gilden oder Professionen), und das externale Wissen steht in eindeutiger Affinität zu formal-bürokratischen und hochtechnisierten Organisationen.

Ebenso eindeutig unterscheiden sich diese Wissensformen auch in ihren funktionalen Leis-tungskapazitäten. Intuitionswissen zum Beispiel ist dort gefragt, wo infolge der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit der Problemfälle nicht auf ein vorgängig akkumuliertes Erfahrungs- oder Kollektivwissen zurückgegriffen werden kann, während das technisierte Regelwissen eindeutig bei kausal völlig transparenten, in identischer Form immer wiederkehrenden Aufgabentypen im Vordergrund steht.

Das Traditions- und Bildungswissen hat seinen Schwerpunkt dort, wo Problemfälle zwar unvorhersehbar variieren, aber mit Hilfe eines konstanten Kanons an Wissensbeständen lösbar sind (zum Beispiel in Rechtsberufen, in der wissenschaftlichen Forschung oder in der kurativen Medizin).

Historischer Wandel

Wenn man die neuere Kultur- und Sozialgeschichte unter diesem wissensmorphologischen Blickwinkel ins Auge fasst, lässt sich – grob vereinfacht – die These formulieren, dass innerhalb der vergangenen fünfhundert Jahre ein Trend zur «heteromorphen Polarisierung» vorherrschend war.

Während im Mittelalter sowohl in der Landwirtschaft wie im Handwerk, in der Kunst wie in der Wissenschaft, Erziehung und Religion informelles Traditionswissen dominierte – es war für die ständische Differenzierung ebenso wie für die Familienzentrierung und die lokale Segmentierung der Gesellschaft mitverantwortlich –, so lässt sich die Zeit seit der Renaissance durch zwei scharf geschiedene, andererseits aber komplementär aufeinander bezogene Trends charakterisieren:

Die erste, bekanntere Entwicklung besteht aus der Summe jener Vorgänge der Wissensex-ternalisierung, die unter Begriffen wie «Verschulung», «Bürokratisierung», «Automatisierung» und neuerdings «Informatisierung» subsumiert werden und allesamt darauf ausgerichtet sind, implizites informelles Traditionswissen durch explizitere, personenunabhängigere, der institutionellen Kontrolle und Weiterentwicklung besser zugängliche Wissensbestände zu ersetzen. In der Sozialwissenschaft haben diese Prozesse, in denen man die Hauptursachen für die tiefgreifenden sozioökonomischen und kulturellen Wandlungen der letzten paar Jahrhunderte sieht,
in verschiedenen Theoriekonzepten ihren Niederschlag gefunden:

Praktisch alle progressivistischen gesellschaftstheoretischen Entwürfe haben an diesen Externalisierungsprozessen festgemacht: in der richtigen Einsicht, dass nur externale Wissensbestände einer nach oben hin offenen Anreicherung und Weiterentwicklung zugänglich sind, während zum Beispiel das Intuitions- und Erfahrungswissen infolge seiner Personengebundenheit immer auf demselben niedrigen Niveau verharrt.

In diesem Sinne hat etwa der Fortschrittsoptimismus der Aufklärung in die Erziehung des Menschen beträchtliche Hoffnungen gesetzt, während die «Industriegesellschaft» die im wirtschaftlichen Produktionsbetrieb sichtbare Kombination aus Organisierung und Technisierung ins Zentrum rückt und mit der «Informationsgesellschaft» die Vorstellung verbunden ist, dass der Wandel in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft auf der Digitalisierung des Wissens (das heisst seiner Überführung in einen völlig externalen und fungiblen Aggregatzustand) basiere.

Der gegenteilige Trend zur Informalisierung und Personalisierung des Wissens manifestiert sich vor allem in der hohen gesellschaftlichen Bedeutung von Funktionsgruppen, die – wie zum Beispiel Unternehmer oder Intellektuelle – ihre Fähigkeiten nicht primär auf formale Bildungsqualifikationen abstützen, sondern auf diffuse idiosynkratische Talente und Begabungen, die nicht planmässig erzeugbar oder interpersonellübertragbar sind.

Informalisierungsprozesse

Besonders drastisch zeigt sich dieser Internalisierungsprozess am Beispiel der bildenden Kunst, die bis ins Spätmittelalter als ein regulär erlernbares und zunftmässig kollektiviertes Handwerk galt, seit der Renaissance – und in verabsolutierter Form seit der Romantik – aber als eine individualisierte Aktivität betrachtet wird, in der sich das unverwechselbare schöpferische Genie des einzelnen Werkautors manifestiert.

Parallel dazu hat sich auch bei sozialen Berufen die Auffassung durchgesetzt, dass zum Beispiel die Qualität und Wirksamkeit von Erziehern, Lehrern, Seelsorgern, Militäroffizieren, Sozialarbeitern oder Sterbebegleitern höchstens in lockerem Masse mit ihrer Formalbildung zu tun habe, sehr viel mehr hingegen mit Faktoren persönlicher Ausstrahlung, intuitiver Einfühlung oder charakterlicher Integrität, die an der partikulären Persönlichkeit haften und nicht erlernt und abgeprüft werden können, sondern bloss im Rahmen der Rollentätigkeit, in Erscheinung treten.

Während die Informalisierung der kulturellen Berufe viel damit zu tun hat, dass institutionelle Normierungen,über dieästhetische Gestaltung von Bildwerken zum Beispiel, verschwunden sind, hängt die Subjektivierung sozialer Berufe damit zusammen, dass die betreuten Individuen zunehmend als autonome Alter ego mit je einzigartigen Fähigkeiten und Entwicklungspotentialen in Rechnung gestellt werden – anstatt wie früher als Subjekte, die mit standardisiertem Drill in eine ganz bestimmte kulturelle Tradition einsozialisiert werden sollen.

Ein Blick auf neueste Reorganisationsentwicklungen im Unternehmensbereich zeigt, dass analoge Informalisierungen auch in sehr moderne Zweige wirtschaftlicher Produktion eindringen. So verschiebt sich bei «lean production» das qualifikatorische Anforderungsprofil erheblich zu jenen Sozialkompetenzen und Personalqualifikationen, wie sie für eine produktive Kooperation in selbständigen Arbeitsteams und für den flexiblen Umgang mit Kunden unverzichtbar sind.
Dies hat erwiesenermassen dazu geführt, dass Arbeitgeber bei der Auswahl von Lehrlingen eher auf deren persönliches Auftreten, familiäres Umfeld und soziale Freizeitaktivitäten als auf Schulzeugnisse oder berufsbezogene Vorqualifizierungen achten.

Zweitrangigkeit des Bildungswissens

Während im Gefolge von Verwissenschaftlichung, Technisierung und Informatisierung die externalen Wissensbestände beschleunigt anwachsen, scheint die zunehmende Expansivität, Komplexität und Dynamik der aktuellen Gesellschaft zu bewirken, dass informelles Traditions- und formelles Bildungswissen zugunsten von Intuitions- und Begabungswissen relativ an Bedeutung verlieren.

Diese (vergleichsweise) Zweitrangigkeit des Bildungswissens manifestiert sich beispielsweise darin, dass es neben den Ärzten und Juristen nur wenigen Berufen gelungen ist, sich im Vollsinne als «Professionen» zu etablieren: das heisst als Gruppen, die allein aufgrund formaler Bildungsqualifikation einen Alleinvertretungsanspruch über ein bestimmtes Aufgabenfeld durchsetzen können. Bei den meisten andern höherqualifizierten Berufen handelt es sich um «Semi-Professionen», die ihren Status zwei Seiten gegen- über verteidigen müssen:

Von manchen Berufsgruppen (Revisoren und Informatikern zum Beispiel) ist in Fallstudien dokumentiert, dass sie ihre Professionalität paradoxerweise durch die Ergebnisse ihrer eigenen Tätigkeit unterminieren: indem sie etwa all ihr Wissen in leicht handhabbare Computerprogramme einspeichern, die nachher von Personen mit viel niedrigerer Qualifikation benutzt werden können.

Verständlicherweise setzen manche Experten der Entwicklung sogenannter «Expertensysteme» Widerstand entgegen, die zum Ziel haben, das von ihnen persönlich akkumulierte Erfahrungs- und Traditionswissen digital zu externalisieren, um es einer systematischen Integration mit dem Wissen anderer Experten und einer weltweiten niederschwelligen Zugänglichkeit (ohne teure Honorarforderungen) entgegenzuführen.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass es nicht nur funktionale Probleme, sondern auch soziale Machtkämpfe sind, die auf den Wandel unserer Wissensstrukturen und die darauf hinzielenden Strategien einen bestimmenden Einfluss haben.


Dr. Hans Geser ist ausserordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Zürich.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 22.12.98