Viel mehr als die Summe der Teile

In der aktuellen Bildungsforschung werden zunehmend konstruktivistische Ansätze diskutiert. Sie stehen in fundamentalem Gegensatz zu klassischen Vorstellungen des Unterrichts als Wissenstransfer und der Idee, dass Bildung organisierbar ist.

VON HENK GOORHUIS

Schon in der antiken Philosophie wurde von den Skeptikern die Unmöglichkeit postuliert, den Wahrheitswert einer Erkenntnis zuüberprüfen, da sich jegliche Art der Überprüfung auf eine andere vorgängige Erkenntnis stützen muss. Die Skeptiker versuchten also darzustellen, dass sich die Annahme eines möglichen Zuganges zur Wirklichkeit nur in Widersprüche verstricken kann, da wir als erkennende Wesen sozusagen in unseren eigenen Vorstellungen gefangen sind.

Diese zirkuläre Gefangenheit des Menschen wurdeüber die Jahrhunderte immer wieder von Philosophen diskutiert. Das wohl bekannteste Diktum stammt von Kant, der herleitete, dass wir die Dinge nicht erkennen können, wie sie «an sich» sind, sondern nur, wie sie «für uns» sind – die bekannte kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie.

Der italienische Philosoph Giambattista Vico formulierte um 1710, der Mensch könne nur erkennen, was er selber gemacht habe, also – im Gegensatz zu Gott – nicht die Welt. Er wies darauf hin, dass das Wort «factum» von «facere» (machen) stammt. In der Mystik ergänzt sich dies zur These, dass wahre Erkenntnis nur durch die Einswerdung mit Gott, der «Unio Mystica» möglich ist.

Vom Subjekt gemachte Wahrheit

Die immense Zunahme der Komplexität und Vernetzung der heutigen Welt gibt wieder neuen Boden für das Aufleben einer neueren Variante des Konstruktivismus, welcher sich aus der Kybernetik und der Systemtheorie heraus entwickelt hat.Ähnliche Vorschläge tauchten in der Biologie mit dem Konzept der Autopoiese und in der Familientherapieforschung auf. Grundsätzlich geht der erkenntnistheoretische Diskurs im Konstruktivismus heute davon aus, dass der Mensch seine Welt nicht findet, sondern erfindet. Oder wie Paul Watzlawick es formuliert: «Wie man an die Wirklichkeit herangeht, ist für das ausschlaggebend, was man finden kann.»

Modelle der
Wirklichkeitswahrnehmung

 

Laut den Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela befindet sich jedes Lebewesen, also auch der Mensch, grundsätzlich in einer zirkulären und operationell geschlossenen Situation, solange er seine Identität auf der Unterscheidung zwischen sich und der Umwelt aufbaut.

Die operationelle Geschlossenheit bedeutet, dass der Mensch auf seine Umwelt ausschliesslich mittels internen Verhaltensweisen reagieren kann. Aktion und Erkenntnis sind daher aufeinander angewiesen ohne Referenz an einer gegebenen Wirklichkeit: die Wahrheit wird nicht gefunden, sondern vom Subjekt gemacht. Oder, um es in den Worten des radikalen Konstruktivisten Heinz von Foerster auszudrücken: «My nervous system does not, indeed, cannot, tell me what is‹out there›, not because of mechanical but because of logico-semantical reasons. My nervous system cannot tell me anything because it is‹me›: I am the activity of my nervous system, all my nervous system talks about is its own state of sensory-motor activity.»

Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat diese Ansätze zu einer Gesellschaftstheorie ausgebaut, welche auf der Hypothese der selbstreferentiellen Geschlossenheit sozialer und psychischer Systeme beruht. Luhmann geht davon aus, dass auch soziale Systeme auf ihre Umwelt ausschliesslich mittels ihrer internen Operationen reagieren. Sie sind also in ihrem Weltmodell gefangen solange sie ihre Identität auf Unterscheidungen aufbauen, welche ihre Realität konstruieren.
Natürlich kann der Konstruktivismus selbst kein Modell einer Wirklichkeit sein, denn er unterliegt seinen eigenen Gesetzen. Der Konstruktivismus muss sich einzig und allein durch die Praxis bewähren. Alles echthaberische verliert auf diesen Hintergründen seinen Sinn.

Konstruktivistische Wissenstheorie

Die konstruktivistische Wissenstheorie geht der Schwierigkeit der Skeptiker, ob Wissen eine objektive Welt abbildet, auf eine elegante Art aus dem Wege. Laut Jean Piaget, bei welchem man die Wurzeln dieser Wissenstheorie lokalisieren kann, ist Wissen kein Abbild einer gegebenen Welt, sondern die adaptive, innere Basis jeglicher Aktivität des Menschen.

Wissen wird nicht als ein aufgenommenes und gespeichertes Produkt eines Lernprozesses verstanden, sondern als eine Sammlung interner Operationen, welche der Mensch durch seine ständige Bemühung um Stabilisierung der Umwelt-Perturbationen erzeugt und verfeinert. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass verschiedene Menschen dieselbe Aufgabe gut lösen, obwohl sie verschiedene Repräsentationen der Aufgabe haben können.

Ernst von Glasersfeld, der Erfinder der «Konstruktivistischen Wissenstheorie» schliesst daraus, dass Wissen von jedem Menschen selbst aufgebaut werden muss und nicht etwa durch einen schulischen Prozess von aussen «importiert» werden kann. Damit steht diese Wissenstheorie in radikalem Gegensatz zu allen klassischen Vorstellungen des Unterrichts als Wissenstransfer. Oder wie Varela es ausdrückt: «Das Gehirn ist ein Organ, das Welten festlegt, keine Welt spiegelt.»

Unterricht als nicht steuerbares System

In der aktuellen Bildungsforschung werden konstruktivistische Ansätze zunehmend wahrgenommen und diskutiert. Dies geschieht nicht zuletzt durch die wachsenden Zweifel, dass in alltäglichen Unterrichtsprozessen tatsächlich das, «was gelehrt wird, auch gelernt wird». Klaus Holzkamp spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten «Lehr-lernkurzschluss».

Im Laufe der letzten Jahre haben diese wachsenden Zweifel, die stark zunehmende Komplexität der Unterrichtsthemen und auch der Lernbiographien sowie die steigende Forderung nach Transdiziplinarität zu einer teilweise radikalen Neuorientierung in der Bildungs- und Didaktikforschung geführt. Unterricht kann zwaräusserlich gesteuert werden, wir haben es aber bei den Erkenntnisvorgängen mit komplexen, selbstorganisierenden Phänomenen zu tun. «Bildung ist nicht organisierbar», meint deshalb der bekannte Erwachsenenpädagoge Horst Siebert.

Speziell in der Erwachsenenbildung, wo die Beteiligten den Lernprozess in einen breiten Erfahrungschatz einbauen müssen, führt dies laut Rolf Arnold zur Einsicht, dass «Erwachsene lernfähig sind, aber nicht belehrbar». Xaver Büeler (siehe S. 13 ff) spricht bei den konstruktivistischen Ansätzen im Bildungswesen gar von einem internationalen Trend: «In der Schulforschung bahnt sich eine Abkehr von einem traditionellen, an statisch-mechanischen Systemen orientierten Denken an. In den Mittelpunkt des Interesses rücken zunehmend Denkmodelle, die sich orientieren am Verhalten und an der Struktur selbstorganisierender, dynamischer Systeme.»

Die konstruktivistische Wissenstheorie bietet nun ein fundamental neues Paradigma für die Selbstorganisation von Lern- und Lehrprozessen. Wissen ist hier ein angepasstes internes Merkmal jeder Person, um die eigene Identität zu erhalten. Jede Person baut ihre eigene Welt auf und organisiert diese, oder wie Piaget es formuliert: «Wer seine Erfahrung organisiert, organisiert die Welt.»

Aus diesem Modell ergibt sich, dass Lernprozesse an sich schon selbst-referentiell sind: Menschen lernenüber ihre eigene Identität, um sie zu reorganisieren beziehungsweise zu stabilisieren, nicht um eine fix vorgegebene Welt kennenzulernen. Unter dem Titel «Natur als Vorbild» beschreibt Rolf Arnold die Selbstorganisation als Modell in der Pädagogik mit der Forderung, dass relevantes Lernen stets die Veränderung der eigenen Person miteinbezieht.

Universitäre Weiterbildung

Michael Gibbons, Helga Nowotny und andere beschreiben in der modernen Forschung einen Modus 2, welcher sich durch seine Transdisziplinarität, seine dialogische Natur zwischen Theorie und Praxis und seine Selbstorganisation charakterisiert.

Zunehmend entwickelt sich nun auch in der universitären Weiterbildung ein solcher Modus 2, in welchem Berufsleute nicht an die Universität kommen, um Wissen aufzunehmen, sondern um Problemstellungen und Erfahrungen aus der Praxis zu diskutieren und so mit der Forschung in einen wechselseitigen Dialog zu treten. Sie möchten zu Recht mit ihrer Berufserfahrung ernstgenommen und nicht als Schüler behandelt werden. Davon kann rückwirkend dann auch wieder die Forschung profitieren, da sich gezeigt hat, dass der gesellschaftliche Kontext für die Forschung von zunehmender Bedeutung ist.

In solchen dialogischen oder besser noch co-evolutionären Prozessen, wo nun die Differenzen zwischen Theorie und Praxis, Forschung und Lehre sowie Lehrenden und Lernenden aufbrechen, stellt die konstruktivistische Wissenstheorie ein erstaunlich nützliches Werkzeug dar. Es wird der Versuch gemacht, die Realitätskonstruktionen aller Beteiligten in den Lernprozess zu integrieren und diese differenzierten Erfahrungswelten als zentrale Unterrichtsressource zu nutzen.

Weitergedacht führt dies dazu, dass beim Lernprozess nicht Wissen aufgenommen wird, sondern neues Wissen entsteht. Der Lernerfolg ist –ähnlich wie der Forschungserfolg in der Modus-2-Forschung – dann eine Emergenz des Prozesses, also als Ganzes «mehr als die Summe der Teile».

Co-Evolution

Diese Entwicklung bettet sich gut ein in das co-evolutionäre Modell der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, welches ebenfalls auf der operationellen Geschlossenheit gesellschaftlicher Systeme beruht. Im Modell der Co-Evolution geht es darum, dass sich die beiden operationell geschlossenen, also in ihrem Paradigma gefangenen Systeme gegenseitig spiegeln, um die blinden Flecke im Prozess der jeweiligen Identitätsfindung aufzudecken.

Für diese komplexe Co-Evolution zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen wie beispielsweise zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik hat Loet Leydesdorff die rekursive Metapher der Triple-Helix vorgeschlagen. Im Triple-Helix-Modell verkommt nun also die Hochschule nicht zum reinen Auftragsnehmer der Wirtschaft oder der Politik, denn schon das Konzept eines «Auftrages» existiert nur innerhalb des Wirtschaftsparadigmas. Sondern es stehen sich autonome und letztlich wesensfremde gesellschaftliche Systeme gegenüber, welche zum Zwecke ihrer jeweiligen Evolution in eine Wechselwirkung treten. Die Zweckdefinition dieser Wechselwirkung muss jedes System für sich selbst erfüllen.

Von Seiten der Berufspraxis werden solche Vorschläge erfreulich gut aufgenommen, da das Image des Elfenbeinturmes den gesellschaftlichen Nutzen der Universität gegenüber der zunehmend selbstbewussteren Kundschaft der Weiterbildung nicht aufzuzeigen vermag.


LITERATUR

Eine vollständige Literaturliste zum Thema erhalten Sie über www.weiterbildung.unizh.ch/team/goorhuis.shtml


Ein Versuch der Co-Evaluation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft mit bekannten Vertretern beider Systeme und viel Freiraum zur Mitgestaltung findet statt an der Uni Irchel: Complex Change Forum 25. bis 27. Februar 1999. Programm erhältlich über 01 634 29 67 (Telefon), 01 634 49 43 (Fax), Web-Site: www.weiterbildung.unizh.ch


Dr. Henk Goorhuis ist Leiter der Fachstelle für Weiterbildung an der Universität Zürich.


unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


unipressedienst – Pressestelle der Universität Zürich
Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 21.12.98