«Die Zeit geht nicht, sie stehet still.»

Geschichte als Wissenschaft, das war über lange Zeit viel Faktenhuberei und Quellenfetischismus. Und dann gab es ein paar schwarze Schafe, die die Historie nach ihrem eigenen Gutdünken zähmten. Die zeitgenössische Geschichtswissenschaft bewegt sich zwischen den beiden Extremen. Sie weiss um ihre fiktionale Dimension und die Relativität ihrer Wahrheiten. Zur Subjektivität von historischem Wissen.

VON CARLO MOOS

In einem fünf Jahre nach seinem Selbstmord erschienenen Interview hat Niklaus Meienberg, der an professionellen Historikern kein gutes Haar zu lassen pflegte, in der ihm eigenen provokanten, aber oft treffenden Art eine rabiate Kritik an der «Oral History», der Interviewmethode in der Zeitgeschichte, geübt.(1) Er selber pflegte von Gesprächen offenbar keine Tonbandaufnahmen zu machen, sondern rekonstruierte sie jeweils aus dem Gedächtnis. Auf den Einwand der Befragerinnen, dass die Forschung genaue Wiedergabe verlange und er, indem er nacherzähle, die Sprache der Leute und den Inhalt der Gespräche verändere, replizierte Meienberg, seine beiden Interviewerinnen gingen anscheinend davon aus, dass aus «Oral History» durch nachträgliche Transkription einfach «Written History» werde, was absurd sei: indem sie geschrieben werde, sei sie eben keine «Oral History» mehr.

Tatsächlich liegt da ein Problem vor, das das Enfant terrible unter den Schweizer Historikern offensichtlich mehr umgetrieben hat als manchen etablierteren Angehörigen der Zunft. Wenn Gesprochenes zu Geschriebenem wird, geht etwas Essentielles verloren. Nebengeräusche, Zwischentöne, Stockungen, Kunstpausen, Ironie, Bitterkeit, Begeisterung, Wehmut, Sehnsucht, Hoffnung, Enttäuschung: alles, was sich mit der Stimme, durch Mimik und begleitende Gesten ausdrücken lässt, verschwindet aus der Transkription oder kann nur unvollkommen mit Hilfe meist stereotypisierter Kommentare wiedergegeben werden. Ein mehrdimensionales kommunikatives Netz wird auf eine einzige Dimension reduziert.

Freilich, wenn sich Meienberg zur nachträglichen Rekonstruktion im Sinne einer freien Nacherzählung bekennt, mag er verschiedene Dimensionen, die bei einer blossen Transkription wegfallen, wieder ins Spiel bringen. Vor allem bringt er aber sich selber hinein; er macht sich zum Spielleiter, der darüber entscheidet, was gilt, wie er es bringen will und was wegzufallen hat. Die interviewte Person wird zur Spielfigur,über die er selbstherrlich verfügt. Dafür ist er im Fall der Familie Wille bekannt und für die Betroffenen so zum Zielpunkt des Hasses geworden, dass sie mit Pfeilen auf sein Bild geschossen haben sollen.

Vom Finden und Erfinden

Das Beispiel Meienberg hat uns mitten in die Problematik des Erwerbs von historischem Wissen geführt. Auf der einen Seite sehen wir gewissermassen den Skylla-Felsen der blossen Rekonstruktion, auf dem sich Faktenhuber und Quellenfetischisten tummeln, auf der andern den Charybdis-Wirbel der genialen Konstruktion, wo mächtige Dompteure ihre Opfer aus der Vergangenheit erwarten. Das eine wie das andere sind Extreme; der Alltag von Historikerinnen und Historikern verläuft irgendwo zwischendurch. Wo genau die Linie liegt, der entlang sie sich bewegen sollten, ist gerade das Problem, denn die Frage lautet, wieviel Fiktionalität noch «historisch» ist und wo die Zone nicht mehr «historischer» Erfindung beginnt.

Das teilweise in Empörung umgeschlagene Befremdenüber das 1995 bei Suhrkamp erschienene vermeintliche ErinnerungsBuch von Binjamin Wilkomirski («Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948») zeigt jedenfalls, was nicht mehr «drin» liegt, nämlich rein Erfundenes als selbsterlebte und eigenerinnerte Geschichte statt beispielsweise als Roman auszugeben. Wilkomirskis Sündenfall wäre vielleicht unbeachtet geblieben, wenn er nicht ausgerechnet die grauenvollstmögliche Erfahrung, jene der Vernichtungslager, als authentisch ausgegeben hätte.

Allerdings versuchen auch die «wirklichen» Erfinder historischer Erzählungen und Romane in der Regel, sich am Möglichen zu orientieren, obwohl sie sich mehr oder weniger reflektiert im Bereich der Fiktionalität bewegen. Conrad Ferdinand Meyer etwa hat zu Recht von sich gesagt, er behandle die Geschichte «souverän, aber nicht ungetreu». (2) Unter Rückgriff auf Aristoteles äusserte Meyers Zeitgenosse Jacob Burckhardt in einer 1872/73 entstandenen Passage seiner «Weltgeschichtlichen Betrachtungen», die Poesie leiste mehr für die Erkenntnis des Wesens der Menschheit als die Geschichte (3), und zwar offensichtlich deshalb, weil sie – wie er drei Jahrzehnte früher geschrieben hatte – mit Hilfe der Phantasie die Lücken der Anschauung auszufüllen vermöge. (4)

In der Tat liegt hier eine der grossen Schwierigkeiten für Historikerinnen und Historiker, dass sie – nach einem berühmten Wort Leopold von Rankes – zwar gerne wüssten, «wie es eigentlich gewesen», das nötige Material dafür aber oftmals nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung haben. Niemand weiss, was im innersten Höllenkreis des Holocaust «wirklich» geschah, weil die Millionen «echter» Zeugen den Massenmord nichtüberlebten. Jene, die aus Auschwitz und anderen Vernichtungsräumen zurückkehrten und darüber berichten konnten, waren wenige Gerettete, nicht die vielen Gemordeten.

Vielleicht ist es gerade diese innerlichst unmögliche Zeugenschaft für das Unvorstellbare, an der ein im Gegensatz zu Wilkomirski «wirklich» in das Lager-Universum Eingelieferter wie Primo Levi schliesslich zerbrach, nachdem er das Problem in seinem letzten Werküber Auschwitz reflektiert hatte. Wer die Konzentrationslager beschreibe, notierte er im 1986 erschienenen «I sommersi e i salvati», seien Leute wie er selber, die den Abgrund nicht erreicht hätten; die ihn erreicht hätten, die «Besseren» (wie er meinte), seien nicht wieder heraufgekommen.

Rund um die «Quellen»

Mit Auschwitz befinden wir uns freilich vor einer Extremsituation. Aber der Tod ist immer extrem, insofern er das Leben beschliesst und dadurch unergründlich wird. Er lässt sich nur von aussen beschreiben, ausser in der Fiktion. Das Problem, vor dem Historikerinnen und Historiker jeweils stehen, ist indessen im Kern vergleichbar. Sie verfügenüber Material, das sie «Quellen» nennen und alles Mögliche sein kann: Geschriebenes, Gebautes, Begrabenes, Tradiertes, Gefilmtes, Vertontes, Zusammenhängendes, Fragmentarisches und so weiter. Meist ist es von einst – weniger oft von noch – Lebenden Zurückgelassenes.

Schon der Zusammenhang, in dem dieses Material steht, ist nicht immer zureichend bekannt, oft gänzlich dunkel: Wann und wo wurde der Text geschrieben, wenn es sich um einen solchen handelt, von wem, für wen, unter welchen Umständen, mit welchem Ziel? Alles rund um ihn herum muss rekonstruiert werden, bevor auf Inhaltliches eingetreten werden kann.

Aber diese Rekonstruktion ist ihrerseits oft fragmentarisch, weil sich in den Archiven normalerweise nicht eine einzige Superquelle, sondern eine Unmasse von Material findet, das in irgendeinem seinerseits zu klärenden Bezug zueinander steht. Also lässt man vieles weg, oft erheblich mehr als man auswertet; und was die Auswahl anbelangt, so erfolgt sie in der Regel nach Kriterien, die man selber aufstellt. Man wendet Massstäbe an, die einem von der Sache her plausibel erscheinen – aber es sind eigene Massstäbe. Schon die Rekonstruktion des Materials, mit dem man arbeitet, und des Umfelds, dem man es entnimmt, ist also mitbestimmt durch Entscheide von mehr oder weniger hoher Subjektivität.

Was erst, wenn es um jene Bereiche geht,über die sich das Material nicht direktäussert? Beispielsweise um die «wahren» Ziele, welche Personen, Verbände, Parteien, Behörden, Staaten verfolgen, vor allem aber um die Absichten, die sich hinter den nicht immer zielorientierten Handlungen von Personen oder Organisationen verbergen? Ihnen gegenüber wird mehr als nur quellengestützte Rekonstruktion betrieben: Es werden Beziehungsnetze und Regelsysteme hergestellt sowie Realitäten via ihre Wahrnehmung durch das erkennende Subjekt konstruiert, alles so nahe wie möglich am Material – wie man jedenfalls hofft –, aber nach selbstgestellten Fragen und mit selbstgesteckten Zielen. Man sucht also nach Antworten, die – weil sie in einem selbstdefinierten Kontext angesiedelt sind – eine fiktionale Dimension haben. Wäre die Fragestellung anders, wäre die Antwort anders. Ausserdem gibt es zu jedem Material in der Regel mehrere mögliche Fragen und zu jeder Frage meist mehrere mögliche Antworten.

Geschichte ist, was wir als Geschichte begreifen

Damit erweist sich, dass Niklaus Meienberg mit seinen Attacken gegen die Historikerzunft zwar viel Verärgerung auslöste, aber die Grundcharakteristika von Geschichte als Wissenschaft im Kern richtig erkannt hat. Ihre fiktionale Dimension und ihre konstruktivistische Qualität verbieten es, eine einfache Gegensetzung von literarischer Fiktion und wissenschaftlicher (historischer) Rekonstruktion vorzunehmen.

Auffällig ist, dass Grenzgänger und Randfiguren, das heisst solche, die sich selber nicht (mehr) als Historiker verstehen, oft ein besseres Gespür für die Möglichkeiten und Beschränkungen dieser Wissenschaft haben. Das zeigte im Grunde genommen schon Jakob Burckhardt, der sich – quer zu seinem Nachruhm – als Aussenseiter des Wissenschaftsbetriebs verstand. Das zeigen noch deutlicher alle jene, die sich literarisch, das heisst aus einer Zone erklärter Fiktionalität, ihrer eigenen und anderer Vergangenheit anzunähern und sie schreibend aufzuarbeiten versuchen.

Martin Walsers jüngster Roman «Ein springender Brunnen» (1998) macht eine solche Annäherung mit Hilfe des Entwicklungsgangs des im selben Jahr wie der Verfasser geborenen Protagonisten geradezu zum Thema. Das Buch hebt mit einem in der Folge mehrfach abgewandelten Satz an: «Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der, dem es passierte.» Darin (wie in allen ersten Kapiteln der drei Teile des Romans) wird nicht nur Vergangenheit heraufgeholt und in Gegenwart und Zukunft gespiegelt, sondern es wird auch das Augenblickshafte des jeweils Geschehenden angesprochen. Was geschieht,ändert sich, indem es geschieht. Nicht nur der Protagonist, sondern jeder Beobachter oder Interpret, der sichÄnderndes wahrzunehmen und einzuordnen versucht,ändert sich seinerseits, während er dieses versucht. So erscheinen alle Realitäten, Konstruktivitäten und Fiktionalitäten eines historischen wie eines literarischen Diskurses nur im jeweiligen Moment als «wahr», unmittelbar nachher aber bereits als «Geschichte».

Gottfried Keller hat rund anderthalb Jahrhunderte früher in einem rätselhaften Gedicht eine andere, in ihrer eindrücklichen Mächtigkeit aber wiederähnliche Vorstellung der Zeit und der Subjektivität ihrer Wahrnehmung ausgedrückt:

Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karavanserai,
Wir sind die Pilger drin.

Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht,
Bis wieder ihr zerrinnt.

Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.

Es ist ein weisses Pergament
Die Zeit und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.


Wir selber, das scheint der Sinn der Verse, machen zu «Geschichte», was wir als solche begreifen. So gesehen, kann ein Tag tatsächlich mehr Wert haben als ein Jahrhundert.

Aber wie steht es mit der «Wahrheit», mag man sich angesichts der vom vorliegenden Aufsatz präsentierten Grenzverwischungen fragen. So viel dürfte klar geworden sein: Die eine, unumstössliche (historische) Wahrheit kann es nicht geben. Als Folge der Perspektivität jeder Wahrnehmung kann es nur Teilwahrheiten geben, die – auch wenn man sie zusammenfügt – ihrerseits Teil eines in seiner Gänze nicht Erkennbaren sind. Solche Teilwahrheiten lassen sich durchaus anstreben und vielleicht sogar erreichen, wenn das Material angemessen ausgelotet und nach den Regeln der Zunftüberprüfbar eingesetzt wird. Indessen sind auch sie letztlich konstruierte Relativität und damit provisorisch, weil jeder neue Interpret in jedem beliebigen Zeitpunkt zu anderen Resultaten und somit zu neuen Teilwahrheiten gelangen kann.

Um es unter Rückgriff auf Gottfried Keller, der diesem Aufsatz auch den Titel liefert, zu sagen: Wir selber sind es, die einem form- und farbenlosen Etwas Gestalt geben, mit dem zugleich wir aber wieder zerrinnen. Dieses Zerrinnen zeigt Kellers an Feuerbach geschulte und optimistisch gewendete Weltnähe selber; zwar besingen die beiden letzten Strophen seines Gedichts sie noch;
uns Späteren ist sie indessen gründlich verlorengegangen:

An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End,
Auch ich schreib meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.

Froh bin ich, dass ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz.


LITERATUR

1    Catherine Boss, Eva Geel, Vom Zwang, rein und sauber zu bleiben, «Weltwoche» Nr. 39, 24. September 1998, S. 52. (zurück zum Text)
2    An Louise von Franois, 4. Mai 1883; Louise von Franois und Conrad Ferdinand Meyer. Ein Briefwechsel, herausgegeben von Anton Bettelheim, Berlin 1905, S. 95. (zurück zum Text)
3    Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften herausgegeben von Peter Ganz, München 1982, S. 48f. und 285. (zurück zum Text)
4    14. Juni 1842 an Willibald Beyschlag; Jacob Burckhardt, Briefe, 1. Band, herausgegeben Max Burckhardt, Basel 1949, S. 204. (zurück zum Text)


Dr. Carlo Moos ist ausserordentlicher Professor für Neuere Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich.

unipressedienstunimagazin Nr. 3/97


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Nicolas Jene (upd@zuv.unizh.ch)
Last update: 22.12.98